Paraguay verliert seine letzten demokratischen Strukturen

Auf dem Weg zum Narcostaat

Drei Jahre nach dem Massaker an Landbesetzern in Curuguaty werden kriminelle Netzwerke in Paraguay immer stärker. Die rechtsstaatlichen Institutionen funktionieren kaum noch.

Die Farm ist wieder besetzt. Am 27. Juni drangen Kleinbäuerinnen und -bauern auf das Gelände Marina Kue, nahe der Stadt Curuguaty im Osten Paraguays. Sie verlangen die Enteignung der Farm, da das Staatsland während der Diktatur Alfredo Stroessners (1954 bis 1988) illegal an den Unternehmer Riquelme Blas verschenkt worden sei.
Das Datum war nicht willkürlich gewählt. Gut drei Jahre zuvor, am 15. Juni 2012, war Marina Kue bereits einmal besetzt worden. Damals kam es zu einem gewaltsamen Zusammenstoß mit der Polizei, bei dem 17 Menschen starben: elf Besetzer und sechs Polizisten. Der Vorfall diente als Vorwand für die umstrittene Amtsenthebung des linkspopulistischen Präsidenten Fernando Lugo eine Woche später (Jungle World 27/2012) und ebnete so den Weg für die Rückkehr der konservativen Nationalen Republikanischen Allianz (ANR), der sogenannten Colorado-Partei, an die Regierung. Seit August 2013 amtiert der Großunternehmer Horacio Cartes als Präsident für die ANR (Jungle World 18/2013). Von 1948 bis 2008 wurde das Land bereits von Colorados regiert.

Die jetzige Besetzung von Marina Kue soll auch Öffentlichkeit schaffen für den Prozess zu dem Massaker, der, nachdem er mehrmals verschoben wurde, am 27. Juli beginnen soll. In diesem wohl wichtigsten Prozess in der politischen Geschichte Paraguays der vergangenen Jahrzehnte sind 13 Personen angeklagt. Ihnen wird Mordversuch, Bildung einer kriminellen Vereinigung und Besetzung fremden Eigentums vorgeworfen, einigen droht eine 25- bis 30jährige Haftstrafe.
Doch eine Klärung des Falles Curuguaty wird die Gerichtsverhandlung wohl kaum bringen. »Die offizielle Version der Geschehnisse vom 15. Juni 2012 ist bewusst darauf ausgelegt, die Besetzer zu verurteilen«, sagt Vicente Morales zur Jungle World. Er ist der Anwalt von elf Angeklagten. Vom Gericht werden ausschließlich Besetzer angeklagt, obwohl die Polizei auch Menschen tötete. »Ich habe den Staatsanwalt mehrfach darauf hingewiesen, dass ein Verdacht auf extralegale Hinrichtungen durch die Polizei vorliegt. Er hat nie reagiert«, kommentiert Morales. Die Angeklagten sollen nur wegen Mordversuchs belangt werden. »Dann bleibt ja automatisch die Frage offen: Wer hat dann damals die Polizisten getötet? Was geschah wirklich in Curuguaty?« sagt der Anwalt dazu.

Hypothesen gibt es viele. Der offiziellen Version zufolge eröffneten einige der etwa 50 Besetzer das Feuer auf die Polizisten, die dann zurückschossen. Menschenrechtsgruppen wie CODEHUPY betonen, dass die offiziellen Untersuchungen völlig unzureichend waren und die Besetzer gar nicht die Schüsse auf die Polizei abgegeben haben konnten. Viele vermuten deshalb, dass Auftragsmörder aus einem Hinterhalt auf die Polizisten geschossen haben: Das Massaker sei bewusst herbeigeführt wurde, um einen Vorwand zur Absetzung Lugos zu finden, der der Agrarindustrie unbequem wurde.
Der Fall von Curuguaty dokumentiert anschaulich das beinahe vollständige Versagen der paraguayischen Institutionen. Für Morales ist dies die große Gefahr für Paraguay: »Das Fehlen funktionierender Institutionen führt unweigerlich zu einem autoritären Regime und dieser Weg wurde bereits eingeschlagen.« Deshalb hat der Fall seiner Meinung nach eine so weitreichende Bedeutung: »Curuguaty ist ein Symbol für die Kriminalisierung von Kleinbäuerinnen und -bauern, die betrieben wird, um von den kriminellen Machenschaften des Agrobusiness abzulenken.«
Die Rückkehr zur demokratischen Normalität mit der Wahl Cartes’ zum Präsidenten brachte in dieser Beziehung keine Verbesserung, eher im Gegenteil. Dem Multimillionär werden schon lange Verbindungen zum Zigaretten-, Waffen- und Drogenschmuggel nachgesagt. Analysten sehen Paraguay auf dem Weg zu einem Narcostaat, in dem jegliche Rechtstaatlichkeit von mafiösen Gruppen unterhöhlt wird. Da es keine flächendeckende Radarüberwachung des Flugverkehrs gibt, gilt Paraguay als sichere Route für den Transport von Kokain. Mutmaßlich beteiligen sich Agrarunternehmer an diesen Geschäften und stellen ihre Privatflugplätze zur Verfügung. Im Norden ziehen Farmer großflächig Marihuana und versorgen den Südosten Brasiliens mit Gras, weitgehend unbehelligt von staatlichen Behörden.
Proteste gegen die Ausweitung der industriellen Landwirtschaft werden dagegen kriminalisiert. Insbesondere der Norden des Landes wurde seit dem Amtsantritt von Cartes stark militarisiert. Anlass geben zwei kleine Guerillaorganisationen, das »Paraguayische Volksheer« (EPP) und die »Kleinbäuerliche Bewaffnete Vereinigung« (ACA). Sie zeichnen für einige Anschläge und Entführungen verantwortlich. Der Militäreinsatz im Norden führt zu Repressionen gegen die Landbevöl­kerung, die pauschal verdächtigt wird, die Guerilla zu unterstützen. Zahlreiche Menschenrechtsverletzungen der Sicherheitskräfte wurden dokumentiert. Die Erfolge im Kampf gegen die Guerillagruppen sind dagegen gering. Deshalb glauben viele Menschen, dass die Gefahr, die von den bewaffneten Gruppen ausgeht, bewusst aufgebauscht wird, um das Vorgehen gegen die Landbevölkerung zu legitimieren. Die verarmte Landbevölkerung wird immer stärker bedrängt, viele geben ihre Farmen auf und ziehen in die Städte oder ins Ausland; sehr zur Freude der Agrar­unternehmer, die sich die freigewordenen Flächen aneignen. Viele der schlechtbezahlten Soldaten arbeiten in ihrer Freizeit als Sicherheitskräfte für Farmer. So scheint hinter der Repres­sion gegen die Landbevölkerung ein perfides System zu stecken.