Protestierende in Armenien beweisen einen langen Atem

Dem System geht der Saft aus

In Armenien haben in den vergangenen Wochen Zehntausende gegen die geplanten Strompreiserhöhungen demonstriert. Die Proteste offenbaren die sozialen Missstände im Land.

Mit Graffiti bemalte Barrikaden aus Mülltonnen versperrten über zwei Wochen lang den Zugang zum Parlament und zum Präsidentenpalast. Protestierende campten in der Innenstadt Eriwans und hielten öffentliche Plena ab. Auch in anderen Städten des Landes kam es zu Solidaritätskundgebungen. In den sozialen Medien ist das Thema Polizeigewalt der Dauerbrenner, die auf Video festgehaltenen Wutausbrüche von Eriwans Polizeipräsident Wladimir Gasparjan werden von den Nutzern genüsslich parodiert. Was sich seit dem 23. Juni in Armenien abspielt, ist die Geburt einer spontan organisierten und von den Parteien unabhängigen Protestbewegung, wie sie das Land noch nicht erlebt hat. »Electric Yerevan« lautet das Motto des losen und heterogenen Zusammenschlusses. Derweil wittern russische Staatsmedien hinter den Demonstrationen in der Südkaukasusrepublik bereits einen von der EU und den USA gesteuerten Umsturzversuch, eine armenische Version der Revolten, die die russische Hegemonie bereits in den Postsowjetstaaten Georgien und Ukraine ins Wanken gebracht hatten.

Anfang Juni kündigte der monopolistische Stromnetzbetreiber ENA, der sich im Besitz des russischen Energiekonzerns Inter RAO befindet, für den 1. August eine Erhöhung des Strompreises um 17 Prozent an. Bereits 2013 und 2014 wurden die Tarife erhöht, obwohl mindestens ein Drittel der armenischen Bevölkerung in Armut lebt und der monatliche Durchschnittslohn bei umgerechnet etwa 250 Euro liegt. Die Reaktionen auf die Ankündigung waren dieses Mal allerdings trotziger. Am 20. und 21. Juni kam es zu den ersten großen Demonstrationen mit Tausenden Menschen, die die Beibehaltung des derzeit geltenden Strompreises forderten. Zwei Tage später setzte die Polizei Wasserwerfer gegen die Demonstrierenden ein. Hunderte wurden festgenommen, Kameras und sonstige Ausrüstung mehrerer Journalisten wurden zerstört. Dieser Versuch, die Demonstration gewaltsam aufzulösen, wurde von Bürgerrechtsorganisationen kritisiert und ließ die Proteste nur weiter anschwellen. Bis zu 15 000 Menschen schlossen sich den Märschen in Eriwan an, auch in anderen Orten des Landes gingen die Menschen auf die Straße. Das sind nicht nur seit Jahren die größten Proteste in Armenien, sondern es konnten auch zum ersten Mal ohne den Aufruf politischer Parteien größere Menschenmengen mobilisiert werden.

Obwohl die Teilnehmerzahlen der Demonstrationen nach einer Woche bereits zurückgingen, präsentierte die Regierung ein Schlichtungsangebot. Präsident Sersch Sargsjan kündigte an, die Stromtarife vorerst beizubehalten und überprüfen zu lassen, ob die Preisanhebungen der ENA gerechtfertigt sind. Zudem wurde armen Familien ein monatlicher Zuschuss von 2 000 Dram (rund 3,80 Euro) zugesichert. Was anfangs nach einem Erfolg für die Electric-Yerevan-Bewegung aussah, entpuppte sich als zweifelhafte Lösung. Denn in der Berichterstattung ging unter, dass die Regierung lediglich beschlossen hatte, die Erhöhungen aus Steuermitteln zu subventionieren. Das Kernanliegen der Demonstrierenden bleibt unangetastet: die korrupten und intransparenten Verhältnisse in der ENA zu beenden, die zum Anstieg des Stromtarifs geführt haben. Unklar ist bislang, woher die Mittel für den Zuschuss kommen sollen. Entweder war das Geld bereits vorhanden, oder es müssen neue Schulden aufgenommen werden. So oder so wuchs die Wut.
Nicht nur deshalb blieb die Baghramjan-Straße, die unter anderem zum Parlament, zum Präsidentenpalast und zu mehreren Botschaften führt, bis zum Montag besetzt, als die Polizei die Barrikaden entfernte und den harten Kern der Eletric-Yerevan-Bewegung festnahm. Ein basisdemokratischer Mikrokosmos hatte sich hier gebildet. An selbstgebauten Ständen wurden kostenlos Wasser und Snacks verteilt. Jeden Abend gab es öffentliche Debatten, lokale Rockbands spielen Konzerte. Medienwirksam fegten junge Männer und Frauen täglich die Straße. »Wer den Ort besucht, bemerkt sofort, dass der Großteil der Protestierenden – die meisten zwischen 19 und 30 Jahre alt – die Mittelklasse repräsentiert«, schrieb Raffi Elliott, ein kanadisch-armenischer Protestunterstützer und Unternehmer, in einem Gastbeitrag für die Moscow Times. »Berufstätige in Marketing oder IT, Studenten, Unternehmer und NGO-Aktivisten bekommen ein Gehalt, das für den Mehrpreis für Strom mehr als ausreicht. Ihre Motivation ist nicht finanziell. Die Proteste gehen darum, wie das Land geführt wird.«

Marut Grigorjan* nimmt seit mehreren Tagen an den Demonstrationen teil. Er lebt und arbeitet in Russland, pendelt aber oft nach Armenien und wohnt dann bei Freunden. »Die Proteste sind gegenwärtig der richtige Weg«, sagt der 31jährige der Jungle World am Rande der abendlichen Kundgebung am 2. Juli. »Wir müssen auf diese Weise versuchen, demokratisch Veränderungen herbeizuführen. Eine Revolution ist das letzte, was wir jetzt brauchen. In der Ukraine und in anderen Ländern hat das doch nur Chaos verursacht. Schon jetzt kämpfen die Menschen bei uns nur ums reine Überleben.« Während des Gesprächs bewegt sich ein Tross von vorwiegend älteren Menschen auf die Kundgebung zu, die EU-Fahnen schwenken. Eine Rangelei folgt und andere Demonstrierende bringen die Neuankömmlinge dazu, die Fahnen herunterzunehmen. »Provokateure«, kommentiert Grigorjan kopfschüttelnd.
Andere Flaggen als die armenische Trikolore sind bei den Kundgebungen derzeit eher unerwünscht. Auch die etablierten Oppositionsparteien werden dazu angehalten, sich nicht zu sehr in den Vordergrund zu drängen. Die Bewegung bemüht sich spürbar, einen unabhängigen Eindruck zu erwecken. Denn die russischen Mainstreammedien haben bereits in populistischer Manier vor einem neuen Maidan in Armenien gewarnt. Ein Begriff, der nach der Revolte in der Ukraine auch in anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion als Synonym für westlichen Impe­rialismus betrachtet wird. Tatsächlich herrscht in Armenien keine allgemein antirussische Stimmung. Der Großteil der Bevölkerung ist sich der ökonomischen und militärischen Abhängigkeit des Landes von Russland bewusst, viele haben mindestens ein Familienmitglied, das dort lebt und arbeitet. Und auch der Hegemon bemüht sich angesichts des Zorns über den Energiebetreiber Inter RAO um Schadensbegrenzung bei seinem wichtigsten Alliierten im Südkaukasus. Am 2. Juli wurde bekannt, dass Russland Kurzstreckenraketen vom Typ Iskander an Armenien verkaufen und dem Land dafür einen günstigen Kredit von 200 Millionen US-Dollar zur Verfügung stellen wird. Auch sicherte Russland überraschend zu, Walerij Permjakow an die armenischen Justizbehörden zu überstellen. Der russische Soldat hatte im Januar seine Militärbasis in Gjumri verlassen und eine siebenköpfige Familie im Ort ermordet. Der Fall löste Entsetzen im ganzen Land aus und sorgte für bilaterale Spannungen, weil Russland zunächst darauf bestand, Permjakow vor einem Militärgericht den Prozess zu machen, anstatt ihn an die armenischen Behörden zu übergeben.
Der lange Atem von Eriwans Sommerrevolte und die Tatsache, dass die Barrikaden erst diese Woche von der Polizei geräumt wurden, hat selbst viele lokale Beobachter überrascht. Doch die Teilnehmerzahlen stagnieren und nicht alle sind von der Wirkung und Ernsthaftigkeit der Aktion überzeugt. »Die Leute tanzen und singen, aber es wirkt alles mittlerweile sehr entpolitisiert«, sagt die Demonstrantin Anna Panossjan*. »Der Regierung kann das nur recht sein.«

* Name von der Redaktion geändert.