Sven Giegold im Gespräch über das griechische Referendum

»Der Mangel an Erfolgen ist fatal«

Auch die griechischen Grünen sind Teil der Bündnispartei Syriza. Dennoch betrachten die europäischen Schwesterparteien die Regierung unter Alexis Tsipras eher kritisch. Sven Giegold ist Mitglied der deutschen Grünen, Mitbegründer von Attac Deutschland und Abgeordneter im Europäischen Parlament. Jungle World sprach mit ihm über die Folgen des Referendums für Griechenland und die Rolle des Hegemons Deutschland.

Nach Bekanntgabe des Ergebnisses des griechischen Referendums haben Sie getwittert, dass die Wiederaufnahme der Verhandlungen ein Gebot der Stunde sei. Das fordert auch die griechische Regierung. Müsste jetzt nicht ein Schuldenschnitt auf der Tagesordnung stehen?
Nach dem Sieg des »Nein« droht eine Eskalationsspirale, die Griechenland schnell aus dem Euro drängen kann. Ein Grexit ist und bleibt unvernünftig. Denn die preisliche Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands ist bereits weitgehend wiederhergestellt, unter enormen sozialen und wirtschaftlichen Kosten. Mit einem Grexit müssten die Menschen noch ein zweites Mal bezahlen: Durch den Verlust einer stabilen Währung und mit einer schweren Währungsumstellungskrise. Ökonomisch ist das auch für die Gläubiger unsinnig, denn je ärmer Griechenland wird, desto weniger kann es seine Schulden zurückbezahlen. Allerdings scheint es, dass etliche Entscheidungsträger in den Mitgliedsländern der EU nicht die Vernunft, sondern eine wirtschaftspolitische Ideologie durchsetzen wollen. Trotzdem sind die politischen Kosten einer drohenden Kosovoisierung Griechenlands für Europa und für dessen Ansehen in der Welt so hoch, dass ich immer noch Hoffnung habe, dass Angela Merkel, François Hollande und Matteo Renzi doch noch ihrer Verantwortung gerecht werden und nach einer fairen Einigung mit Alexis Tsipras suchen. Dazu müsste sich Griechenland zu jenen Reformen verpflichten, auf die es wirklich ankommt: eine leistungsfähige öffentliche Verwaltung, Korruptionsbekämpfung, ein gerechtes und effizientes Steuerwesen. Was der griechischen Wirtschaft dagegen schadet, sind neue prozyklische – also krisenverschärfende – Sparprogramme oder Steuererhöhungen. Das schreckt Investoren ab. Vertrauen für Investitionen kann nur geschaffen werden, wenn das Problem der Überschuldung gelöst wird. Das muss kein Schuldenschnitt sein. Auch eine Umschuldung mit einer Begrenzung der Zinszahlungen und Tilgungen gemäß der wirtschaftlichen Entwicklung können helfen.
Sie haben in einen Kommentar den EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz (SPD) dafür kritisiert, dass er vor dem Referendum die Ablösung von Ministerpräsident Alexis Tsipras gefordert hatte. Schließlich hatte die griechische Regierung betont, dass ein »Nein« keine Absage an die EU und den Euro sei, sondern die Position derer stärke, die eine Alternative zur Austeritätspolitik wollen. Wäre das nicht ein guter Grund für Sie gewesen, ein »Nein« beim Referendum zu unterstützten?
Die Europäischen Grünen haben sich aus Respekt vor der Entscheidung der griechischen Bürger mit Empfehlungen zurückgehalten. Ich halte nichts davon, wenn man aus Deutschland den Bürgern in Griechenland schlaue Ratschläge gibt, wie sie bei einer so schwierigen Entscheidung abstimmen sollen. Zurückhaltung hätte auch der Rolle eines zur Neutralität verpflichteten Präsidenten des Europaparlaments gut gestanden. Es ist leider nicht das erste Mal, dass Martin Schulz eine demokratische Haltung vermissen lässt. Aber zum vermeintlich glorreichen »Nein«: Ich bin mir sehr unsicher, ob das die Verhandlungspo­sition der Griechen wirklich stärkt, weil es die Entscheidungsträger in Europa nur noch stärker zusammenschweißt. Zudem ist die Stimmung in der europäischen Bevölkerung bereits sehr kritisch gegenüber Tsipras. Die Absage an die weitere Sparpolitik kann in der europäischen Realpolitik als Absage an eine weitere Mitgliedschaft im Euro gewertet werden. Diese Interpretation ist aber von der Mehrheit in Griechenland nicht gewollt und könnte im Ergebnis zu einer Katastrophe führen. Wir müssen uns bewusst machen: Das »Oxi« ist kein Nein zum Euro oder Europa.
Ist es nicht überhaupt ein Versäumnis der Grünen in Europa, Kräfte wie Syriza nicht viel stärker zu unterstützen? Schließlich handelt es sich um Bewegungen, die mit den autoritären Konzepten der traditionalistischen Linken gebrochen haben, starke Elemente von Basisdemokratie praktizieren und damit auch Themen aufgreifen, die am Anfang vieler grüner und ökologischer Bewegungen gestanden ­haben.
Syriza selbst ist ein breites Bündnis. Da gibt es Sozialdemokraten und moderne Marxisten. In Sy­riza gibt es auch Teile, die sich in Deutschland oder Frankreich bei den Grünen politisch zu Hause fühlen würden. Die griechischen Grünen sind ein Teil, wenn auch ein sehr kleiner, der Syriza-Regierung. Allerdings finde ich Basisdemokratie nicht die richtige Beschreibung für eine Regierung, die ausschließlich aus Männern besteht, deren wichtige Entscheidungen wiederum in einem sehr kleinen Kreis von Männern getroffen werden und die ihre Koalitionsmehrheit mit Rechtspopulisten und Rassisten findet. Es gibt zudem in Syriza einen starken altlinken Flügel, der derzeit in Braunkohle und Goldabbau mit Menschenrechtsverletzungen und Naturzer­störung eine wirtschaftliche Zukunft sieht. Der macht derzeit unserem grünen Umweltminister das Leben zur Hölle. Hinzu kommt eine rele­vante Gruppe von Trotzkisten, mit denen – Ausnahmen bestätigen die Regel – nur schwer aus­zukommen ist. In dieser Situation kann es keine pauschale Unterstützung für Tsipras geben. Es kann daher nur um kritische Solidarität gehen. Wir Grüne waren Syriza gerade am Anfang äußerst wohlgesinnt, weil wir ihren Einsatz gegen die Austeritätspolitik richtig finden und unterstützen. Wir waren auch mehrfach vor Ort zu Gesprächen. Aber wir müssen auch sehen, dass Tsipras’ Leute gerade aus linker Sicht vieles nicht erreicht haben. Wie die deutsche Linkspartei den Claqueur der Tsipras-Regierung in Deutschland macht, finde ich deshalb peinlich.
Wäre es nicht jetzt an der Zeit, auch in Spanien und anderen Ländern Referenden zu fordern? Schließlich gab es auch dort einen starken Widerstand gegen die Austeritätspolitik, die von den Regierungen rücksichtslos durchgesetzt wurde.
Grundsätzlich bin ich immer für die Stärkung der direkten Demokratie, solange dabei die Grundrechte nicht zur Disposition gestellt werden. ­Allerdings sind Volksabstimmungen nur dann emanzipatorisch, wenn klar ist, worüber abgestimmt wird, und eine faire und breite öffentliche Debatte stattgefunden hat. In Griechenland war das jedoch nicht der Fall. Es wurde gleichzeitig über mehrere verschiedene Fragen abgestimmt: Über die Austeritätspolitik und die Demütigung der griechischen Regierung in der letzten Verhandlungswoche sowie über das Verhältnis zwischen Griechenland und Europa be­ziehungsweise dem Euro. In Spanien wie auch in Portugal und Irland waren zwar die Troika-Programme genauso ungerecht wie in Griechenland, aber sie wurden in Wahlen mehrfach bestätigt. Die dortigen Wahlen waren im Grunde mehrfach Volksabstimmungen über den Kurs in der Finanzkrise. Der Kurs gefällt mir zwar nicht, aber es wäre arrogant, diese Wahlen nicht zu respektieren.
Der Ökonom Thomas Piketty erklärte kürzlich in der Zeit, dass Deutschland, historisch gesehen, seine Schulden sowohl nach dem Ersten wie auch dem Zweiten Weltkrieg nicht bezahlt hat. Warum machen die Grünen solche historischen Fakten nicht bekannter?
Das haben wir im Bundestag gemacht. Allerdings bezweifle ich, dass man damit politisch weit kommt. Entscheidend bleibt vielmehr: Deutschland ist dabei, sich in Europa als selbstsüchtiger Hegemon aufzustellen. Durch die Folgen der Finanzkrise in Frankreich und die Selbstschwächung Großbritanniens ist Deutschland jetzt eindeutig das wirtschaftlich und politisch mächtigste Land in Europa. Bislang ist daraus aber nicht das Verständnis gewachsen, diese Macht im Interesse aller in Europa zu nutzen. Vielmehr setzt Deutschland eine Wirtschaftspolitik durch, die die Anpassungslast in der Krise einseitig auf die anderen Länder abwälzt. Symbolisch dafür ist das Festhalten an den hohen Exportüberschüssen, die letztlich Instabilität in der Eurozone und darüber hinaus schaffen, und die Verweigerung einer solidarisch finanzierten Investitionspolitik in Europa. Deutsche Hegemoniepolitik in Europa ist nicht nur egoistisch, sie funktioniert auch nicht. Die europäische Einigung bleibt die größte Chance, die wir haben, Demokratie, Menschenrechte und Ökologie auch unter den Bedingungen der wirtschaftlichen Globalisierung zu stärken. Trotz aller Widersprüche des realen Handelns der EU – durch eine Schwächung der europäischen ­Einigung wird nichts besser. Die Chancen, dem Kapitalismus und insbesondere dem Finanzmarktkapitalismus mit demokratisch erstrittenen Regeln menschliche Grenzen zu setzen, werden durch die Schwächung Europas ungleich schlechter. Somit ist die europäische Einigung im Interesse der Mehrheit und praktisch aller progressiven Bewegungen in Europa. Vertiefte europäische Demokratie ist schwer zu erreichen, und die Fehler Europas sind schwer zu korrigieren. Aber das europäische Projekt von links aufzugeben, wäre ein unverzeihlicher Fehler, denn eine bessere Wettoption haben wir nicht. Der Nationalstaat wird sicher nicht die Ebene sein, auf der wir der ökonomischen Globalisierung demokratisch begegnen können.
Sie haben die Politik der griechischen Regierung häufiger kritisiert. Wo sehen Sie deren Hauptfehler?
Bis heute sehe ich in der Syriza-Regierung eine Chance, Griechenland grundlegend zu verändern. Allerdings hat sich gezeigt, dass sie es nicht alleine schafft. In den ersten fünf Monaten ist bei den zentralen Problemen – Leistungsfähigkeit der Verwaltung, Klientelismus und Steuerverwaltung – nichts Relevantes vorangegangen. Anders als versprochen, wurde die Lagarde-Liste mit 1063 reichen griechischen Kontoinhabern in der Schweiz nicht abgearbeitet. Stattdessen wurden Steuerzahlern mit Millionenausständen gegenüber dem Fiskus Rabatte gewährt, wenn sie ihre Steuern doch begleichen. Der Vorschlag, die Namen von Steuersäumigen mit mehr als 500 000 Euro Rückstand ins Internet zu stellen, wurde nicht umgesetzt. Bei der Kürzung der ­Militärausgaben ist es unter Syriza nicht weiter vorangegangen. Es ist eine wenig überzeugende Ausrede, dass die Erfolge nur wegen der Troika ausgeblieben sind. Im Gegenteil, es gibt viele ­negative Zeugnisse, auch die Syriza-Regierung pflegt ihren mächtigen Klientelismus.
Dieser Mangel an Erfolgen ist leider fatal. Er war ein Hauptgrund, warum es so leicht war, die griechische Regierung in der Euro-Gruppe zu isolieren. Bei sichtbaren Erfolgen hätten Tsipras und Varoufakis mit einer ganz anderen Glaubwürdigkeit auftreten können. Es ist einfach bitter, dass sie es Schäuble und anderen Scharfmachern gegenüber Griechenland so leicht gemacht haben.