Nach dem griechischen Referendum bleibt die Bundesregierung hart

Genug gerettet

Die deutsche Regierung hat sich zur Sachwalterin einer Politik aufgeschwungen, die sie als alternativlos darstellt. Doch die griechischen Wählerinnen und Wähler haben nun ihre »Kaputtrettung« in einem Referendum abgelehnt. Dass es nun zu ­einer Abkehr von der bisherigen Krisenpolitik der EU kommt, bleibt trotzdem ­unwahrscheinlich.

In entscheidenden Situationen verhelfen manchmal nur historische Vergleiche zu etwas Klarheit. »Ich fürchte, dass wir in fünf Jahren den Juni 2015 so sehen werden, wie wir heute den Juli 1914 sehen«, sagte Larry Summers kürzlich auf einer Konferenz in Bern. Wie zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts verfolgten heute die Beteiligten nur ihre eigenen Interessen. Die Europäer wüssten längst, dass Griechenland niemals seine Schulden werde zurückzahlen können. »Warum handelt Europa dann nicht danach?«
Die Frage, warum sich die Euro-Zone seit Jahren offenbar unausweichlich auf ein Scheitern zubewegt, stellt sich derzeit wohl nicht nur der ehemalige US-Finanzminister. Wer will, kann eine Antwort im Berliner Kanzleramt finden. Von Beginn an setzte sich die Bundesregierung mit ihrer Strategie zur Schuldenkrise durch. Diese hing zwar kausal mit der Einführung der gemeinsamen Währung zusammen, die Länder mit unterschiedlichen Sozialsystemen und differierender Wettbewerbsfähigkeit verband. Doch die Folgen dieses Ungleichgewichts wurden ausschließlich den Defizitstaaten übertragen. Wer zu viel ausgegeben hat, müsse eben entsprechend sparen, lautet die schlichte Botschaft aus Berlin.
Die »Institutionen« – also der Internationale Währungsfonds, die EU-Kommission und die Europäische Zentralbank – formulierten dafür die Bedingungen und stellten Kredite bereit. Die Umsetzung der harten Sparauflagen wurde an die Defizitstaaten delegiert, die ansonsten nur wenig mitzubestimmen hatten. Die Debatte reduzierte sich auf technische Details, etwa über die Laufzeiten der anstehenden »Rettungspakete«. Die politische Entscheidung, die den Maßnahmen zugrunde lag, galt als nicht mehr verhandelbar. Die deutsche Regierung schwang sich so zur Sachwalterin einer höheren Gesetzlichkeit auf, zu der es angeblich keine Alternative gab. Über Mathematik könne man schließlich nicht streiten, hieß es aus dem Kanzleramt.
Entsprechend dominierten die von der heutigen griechischen Regierung so heftig kritisierten Technokraten die Umsetzung der verschiedenen »Rettungsprogramme«. Grundsätzliche Fragen wie die nach der Tragfähigkeit der Austeritätspolitik wurden von ihnen lapidar als irrelevant zurückgewiesen. Damit wurde die Debatte über die griechische Schuldenkrise in eine ausweglose Situation manövriert. Während die Vertreter der »Institutionen« auf die Einhaltung der vereinbarten Regel pochten, stellte das linke Bündnis Syriza die zugrundeliegende Politik in Frage – endgültig mit dem Referendum am vergangenen Wochenende.

Die Renationalisierung der Schuldenkrise macht allerdings nicht vor ihren linken Kritikern halt. So war auch die »Nein«-Kampagne von linksnationalistischem Pathos geprägt, dessen sich Ministerpräsident Alexis Tsipras insbesondere seit Beginn seiner Amtszeit gerne bedient – etwa wenn er von der »nationalen Erniedrigung« spricht und sich »aus dem Ausland kommende Anweisungen« verbat. »Nationen und Staaten können nicht sterben«, meinte kürzlich der griechische Umwelt- und Energieminister Panagiotis Lafazanis angesichts der möglichen Folgen eines Euro-Austritts seines Landes. Die Vertreter der EU seien »skrupellose Imperialisten«, die Griechenland »wie eine entlegene Schuldenkolonie« behandelten. »Die Alternative, vor die sie uns stellen, lautet: Unterwerfung oder wirtschaftliche Strangulation«, sagte der Minister.
Das Narrativ eines nationalen Kollektivs, das sich den Interessen mehr oder wenig anonymer Institutionen widersetzen muss, ist allerdings auch für Parteien und Bewegungen attraktiv, die wenig oder nichts mit einer emanzipativen Linken gemein haben. So sprach der Komiker Beppe Grillo von der italienischen Protestbewegung »Fünf Sterne« am Sonntag von einem »Sieg der Demokratie« und forderte erneut ein Euro-Referendum in Italien. Rechtspopulistische Parteien wie die Lega Nord und die postfaschistischen Fratelli d’Italia hoffen, dass Griechenland bald aus der Währungsunion austritt und so einen Präzedenzfall für andere Länder schafft. In Frankreich begrüßte Marine Le Pen, die Vorsitzende des Front National, das Abstimmungsergebnis in Griechenland. »Was für eine schöne Lektion der Demokratie, das griechische Nein«, jubelte sie auf Twitter, und fügte hinzu: »Die Völker sind zurück!«
Merkels Nationalisierung der Schuldendebatte hat dazu geführt, dass die Probleme bewusst nicht in einem politischen Kontext behandelt wurden. Italien, Spanien und Portugal, die wie Griechenland wegen ihrer extremen Verschuldung existentiell bedroht sind, haben in den vergangenen Jahren Vereinbarungen unterzeichnet, in denen sie sich dem fiskalischen Sparprogramm verpflichten. Keine dieser Regierungen hat Interesse daran, in die Nähe Griechenlands gerückt zu werden. Beim geringsten Zweifel an ihrer Solvenz steigen die Zinsen für die jeweiligen Staatsanleihen.
Als Tsipras Anfang des Jahres erklärte, dass die anderen südeuropäischen Euro-Staaten wegen ihrer hohen Verschuldung die nächsten Opfer der Finanzkrise werden könnten, distanzierte sich der italienische Finanzminister Pier Carlo Padoan, ebenso wie die Regierungen Spaniens und Portugals, sofort vom griechischen Ministerpräsident. Sie entpuppten sich schnell als seine schärfsten Kritiker – allein schon, weil ein Erfolg des linken Bündnisses ihre eigene Sparpolitik in Frage stellen würde. »Die gute Nachricht, wenn die Regierung das Referendum verlieren würde, ist, dass es dann eine andere gibt, mit der verhandelt werden kann«, hatte der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy vergangene Woche noch hoffnungsvoll erklärt.
All dies konnte allerdings nicht verhindern, dass der Börsenindex in Madrid und Mailand zu Wochenbeginn sofort ins Minus rutschte. Auch die Zinsen für südeuropäische Staatsanleihen steigen wieder. Zwar betont Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble unentwegt, dass selbst im Falle eines griechischen Euro-Ausstiegs keine Ansteckungsgefahr bestehe. Die Maßnahmen der vergangenen Jahre wie Schaffung des Europäischen Rettungsschirms hätten das europäische Bankensystem und auch die anderen Krisenländer quasi immun gegen die Folgen einer griechischen Insolvenz gemacht.

Allerdings besitzt selbst der deutsche Finanzminister wohl keine hellseherischen Fähigkeiten. Derzeit würden sich die Folgen eines Ausscheidens Griechenlands aus der Euro-Zone vermutlich noch in Grenzen halten. Die Börsen weltweit erlebten in den vergangenen Tagen teils große Einbrüche, erholten sich aber auch schnell wieder. Doch was geschieht, wenn andere politische oder wirtschaftliche Krisen, wie etwa der Konflikt mit Russland, eskalieren, kann auch Schäuble kaum erahnen. Sicher ist nur, dass ein möglicher Austritt Griechenlands die Euro-Zone unwiderruflich beschädigen würde. Fast beschwörend erklärt Schäuble daher Griechenland zum Ausnahmefall, während sich die Lage in den anderen Krisenstaaten bereits zum Besseren gewendet habe. Doch mehr als Zweckoptimismus steckt kaum hinter solchen Prognosen.
»Es hieß, die Schulden seien bezahlt, doch das stimmt nicht. Unsere Schulden sind nicht tragfähig, die Arbeitslosigkeit steigt. Die soziale Kluft wird größer, die Armut nimmt zu«, erklärte vergangene Woche die portugiesische Abgeordnete Marisa Matias von der Vereinigten Europäischen Linken. »Wir haben hier die gleichen strukturellen Probleme wie Griechenland, aber die Menschen dort haben die Möglichkeit zu entscheiden, die Portugiesen hingegen nicht.«
Eine Abkehr von der bisherigen Strategie, auch wenn sie offensichtlich gescheitert ist, will die Bundesregierung jedoch unbedingt verhindern. Selbst der Umstand, dass die griechische Regierung bereit war, in fast allen wesentlichen Punkten den Forderungen der Gläubiger nachzukommen, änderte nichts an ihrer Haltung. Solange Griechenland auf einem Schuldenschnitt beharrt, gibt es mit der Bundesregierung keinen Kompromiss – auch wenn ihr längst klar sein müsste, dass die Kredite verloren sind. Ihr geht es darum, ein Exempel zu statuieren.
Die Bundesregierung kann sich dabei der Zustimmung im eigenen Land sicher sein. Umfragen zufolge unterstützen bis zu 85 Prozent der Deutschen die harte Haltung Schäubles, des derzeit beliebtesten Politikers im Land. Die Frage, in welchem Maße die Lohnpolitik und die extrem hohen deutschen Exportüberschüsse zu der fatalen Lage in Europa beigetragen haben, stellt heute in Deutschland kaum noch jemand. Die Frage scheint für die meisten Medien und Politiker nur noch zu lauten, wie man die Griechen aus der Euro-Zone werfen kann. »Die Brücken sind nach dem Referendum abgerissen«, sagte am Montag dieser Woche der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel. »Wer gibt den Griechen jetzt noch Geld?« titelte Bild. Wie es scheint, sind die Deutschen bereit, Europa in die nächste Katastrophe zu führen.