Die deutsche Linke ist zu Unrecht von Syriza euphorisiert

Gute Staaten, schlechte Staaten

Die Vorstellung, dass eine Wahl an den Sachzwängen des Kapitals rütteln könne, ist naiv. Eine Kritik der linken Euphorie über das griechische Referendum.

»Mit einem ›NEIN!‹ sagen Menschen in ihrer Verzweiflung, dass sie lieber eine ungewisse Zukunft möchten als gar keine, dass sie sich auf zwei Jahre Bohnen essen einstellen, damit dieses Elend aufhört.« Dieser Satz ist in jeder Hinsicht erschütternd, stand aber am vergangenen Freitag im Aufruf zur »Oxi«-Demonstration, die unter anderem von Attac und der Interventionistischen Linken (IL) gegen das Griechenland von der Troika auferlegte Spardiktat organisiert wurde. Offenbar ist das Argument, das die bisherige »Austeritätspolitik« kein Ende des Elends gebracht hat, der Hoffnung gewichen, dass es einen Unterschied macht, wenn das Sparen nicht von der sogenannten Troika diktiert, sondern mit einem kräftigen Nein selbstbestimmt gewählt wird.
Diese Aussage ist Ausdruck bloßer Euphorie. Das Referendum sei »ein historischer Moment für Europa«, das »am Scheideweg« stehe. Ähnlich begeistert kam ein weiterer Aufruf der IL daher. Darin war von einem »Fenster der Hoffnung« die Rede, geschwärmt wurde von den Möglichkeiten, »eine Alternative zum Bestehenden wieder realistisch denken zu können. Die Macht und Gewalt, mit der die herrschenden Kräfte versuchen, dieses Fenster wieder zu schließen, weil sie das Beispiel eines erfolgreichen Widerstands gegen ihre Politik befürchten, spricht Bände.«

Sinn ergeben diese und ähnliche Parolen, die in den vergangenen Tagen, vor und vor allem nach dem Referendum, häufig zu lesen waren, nur gepaart mit der Überzeugung, dass der Staat über nahezu unendliche Macht gegenüber den Sachzwängen des Kapitals verfüge und dass diese Macht Wohlfahrt spendend statt »neoliberal« ausgeübt werden soll. Dieser Überzeugung gemäß schnurren die an allen Ecken und Enden eskalierenden Widersprüche des Kapitals in der Krise auf eine unmittelbare Konfrontation zwischen differierenden Willen zusammen.
Sicherlich mag der eine oder die andere der herrschenden Schäubles nun Angst haben. Andere mögen es gelassener sehen und eine Linke kaum fürchten, die Widerstand, der zum freiwilligen Bohnenessen führt, für erfolgreich hält. Solche Erwägungen sind aber nur Beiwerk zur tatsächlich handlungsleitenden Angst der europäischen Institutionen: Sie gilt der Möglichkeit, dass die Schuldner das Geld, das sie Griechenland geliehen haben, nicht wiedersehen werden, weswegen die gerade erst mühsam zusammengestückelte Agenda gegen die Krise gegenstandslos zu werden droht.

Es ist genau diese Angst, die zu den Phantasien führt, nach denen Griechenlands »Verschwendung« zur dramatischen Lage im Land geführt habe und nicht etwa der Entwertungsdruck, der aufgrund der Krise auf dem gesellschaftlichen Gesamtkapital lastet. Mit Griechenland wird nicht erst seit dem Regierungsantritt von Syriza so umgegangen. Auch die Vorgängerregierungen sahen sich mit Versuchen konfrontiert, den Entwertungsdruck an dem Staat zu exerzieren, den die Bankenrettung – die 2008 noch im »nationalen Rahmen« ablaufen sollte – als erstes überfordert hatte. Die Invektiven und ressentimentgeladenen Kommentare, die sich seither über Griechenland ergießen, sind nichts anderes als dürre Rationalisierungen einer verleugneten Erfahrung: Es wird nichts bringen, die Produktionsverhältnisse und Absatzmärkte eines Landes zu ruinieren, um den Geldwert desjenigen Kapitals zu erhalten, das zuvor unter diesen Verhältnissen und auf diesen Märkten akkumuliert worden war. Die universelle Abhängigkeit, der das Weltkapital bereits in seiner Gebrauchswertgestalt als Produktionsmittel unterliegt, lässt sich von keiner Seite her durch politische Maßnahmen auflösen.
Wer mit einem einseitig verkündeten Schuldenschnitt kokettiert, sollte mit der Situation, die dann völlig absehbar droht, mehr verbinden als eine vage, euphorisch aufgeladene Hoffnung. Ein Staatsbankrott wäre kein einmaliger Befreiungsschlag, nach dem es zwei Jahre später wieder aufwärts geht. Die Staatsschulden, um die es hier geht, sind schrittweise über die nächsten Jahrzehnte zu begleichen, weswegen die heutige Zwangslage permanent wiederkehren wird.
An dieser Stelle werden die euphorischen Reaktionen vieler Linker auf das griechische Referendum vom Ärgernis zum politischen Problem. Nicht nur bestätigt sie die Phantasie von der schicksalhaften Bindung der Individuen an ihren jeweiligen Staat, die hierzulande den Chauvinismus befördert. Indem die Politik der griechischen Regierung mit fast schon revolutionärer Hoffnung aufgeladen wird, wird – freilich mit anderer Bewertung – das Bild der unverantwortlichen ­Irren reproduziert, das die hiesigen Medien von ihr zeichnen. Griechenland, heißt es im Aufruf der IL, führe »uns erneut die alte, bittere Erkenntnis vor Augen, dass die Macht des Kapitalismus und seiner politischen Institutionen nicht einfach durch Wahlen übernommen und grundsätzlich verändert werden« könne.
Abgesehen davon, dass die IL damit erklärt, dass sie wider besseres Wissen handelt, weil sie die Anwendung ihrer Erkenntnisse für »zynisch« hält, hat das mit der derzeitigen Situation auch nichts zu tun. Mit keinem ihrer Wahlversprechen gerät die Regierung von Alexis Tsipras auch nur in die Nähe jener Grenzen, die staatsförmige Ins­titutionen der Überwindung des Kapitalismus setzen. Denn im Konflikt mit der EU geht es entweder um die Verteidigung von Regelungen, die frühere Regierungen ganz und gar im Rahmen dieser Institutionen eingeführt haben, oder aber, wie bei angestrebten Verbesserung der Steuereintreibung, um Maßnahmen, von denen behauptet wird, dass sie überall, nur nicht in Griechenland gängige Praxis seien.
Auch ein Schuldenschnitt oder eine gemeinsame Schuldenaufnahme aller Euro-Länder läge in diesem Rahmen. In der aktuellen Situation liefe das ohnehin aufs Gleiche hinaus, weil die griechischen Staatsanleihen inzwischen zu großen Teilen im Besitz von Finanzinstitutionen der EU sind. Dies entspräche voll und ganz der ökonomischen Realität, die von der Existenz des Euro als gemeinsamer Währung nicht geschaffen wird, sondern sich in dieser nur ausdrückt, weswegen eine Beteiligung an ihr allen politisch Beteiligten ökonomisch zwingend erschien.
Die griechische Regierung hat daher international die Unterstützung all jener Keynesianer, die in Sachen Krise nur halb so blind sind wie die Sparfanatiker, weil sie den Kapitalismus als das retten möchten, was er tatsächlich ist: Als wachstumshungriges Arbeitsmonster, dessen Produkte auch irgendwer konsumieren muss, wenn die Aussicht auf Profit Anreiz zur Produktion sein soll. Varoufakis wiederum verschaffte in einem Vortrag von 2013 »Einblicke in meine Sicht auf einen verabscheuungswürdigen europäischen Kapita­lismus (…), dessen Zusammenbruch es, trotz seiner zahlreichen Mängel, um jeden Preis zu verhindern gilt. Mein Bekenntnis soll die Linke davon überzeugen, dass wir eine widersprüchliche Mis­sion erfüllen müssen: den freien Fall des europäischen Kapitalismus stoppen, um Zeit zu gewinnen, eine Alternative zu formulieren.«
Mit dem Referendum zog Syriza die Konsequenz aus dem Umstand, dass die Gegenseite dem freien Fall lieber mit Realitätsverleugnung begegnet. Solange das so bleibt, werden nur offensichtliche Zumutungen zur Wahl stehen, die nebenbei die Schranken der Demokratie enthüllen.