Deutsche Kolonialverbrechen in Namibia werden nur zögerlich aufgearbeitet

Mehr als ein Wort

Vor 100 Jahren hörte die Kolonie Deutsch-Südwestafrika auf zu existieren, die Auseinandersetzung mit den Folgen fängt erst an.

Am 9. Juli 1915 kapitulierte die kaiserliche Schutztruppe vor den Soldaten unter General Luis Botha aus der Südafrikanischen Union. Diese hatte als Mitglied des britischen Empire dem Deutschen Reich den Krieg erklärt. Das Gebiet – ungefähr anderthalbmal so groß wie das deutsche Kaiserreich – wechselte den Besatzer. 1919 übertrug der Friedensvertrag von Versailles die deutsche Siedlungskolonie an die südafrikanische Verwaltung. Erst 1990 erlangte Namibia die Unabhängigkeit. Anlässlich des Jahrestags sind über 150 Vertreter aus Politik und Wissenschaft, Kirchen, Kultur und Verbänden mit dem Appell »Völkermord ist Völkermord!« an die Öffentlichkeit getreten. Unter ihnen befinden sich zahlreiche Wissenschaftler, die ehemalige Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD), der erste Botschafter der DDR in Namibia, Hans-Georg Schleicher, der SPD-Bundestagsabgeordnete Karamba Diaby sowie der Vorsitzende des Zentralrats der afrikanischen Gemeinde in Deutschland, Moctar Kamara.

Die Unterzeichnenden fordern den Bundespräsidenten, den Bundestag und die Bundesregierung auf, den Völkermord an den Herero und Nama offiziell anzuerkennen. Nach Deutschlands Drängen auf Anerkennung des Völkermords an den Armeniern durch die Türkei erwarten sie auch eine Entschuldigung für den Völkermord an den Herero und Nama. Zudem fordert der Appell die Identifizierung und Rückgabe aller verschleppten Leichenteile, die für Vermessungen zwecks rassistischer Forschung nach Deutschland gebracht wurden. Zudem soll ein »bedingungsloser und offener Dialog über Versöhnungsmaßnahmen mit den Nachfahren der Genozidopfer und mit der namibischen Regierung« geführt werden.
Der Appell sei doch selbstverständlich, so Anetta Kahane, die zu den Unterzeichnern gehört. »Wenn man das Problem nicht beim Namen nennt, kann man es auch schlecht bekämpfen«, sagt die Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung. Dies gelte für den Völkermord an den Herero, aber auch für Rassismus. Über letzteren werde hierzulande wenig gesprochen, Kolonialismus werde ausgeblendet.

Gegen die koloniale Eroberung durch die Deutschen, die 1883 begann, setzten sich die Herero und Nama besonders entschlossen zur Wehr. Ihr Widerstand wurde mit den beiden Schießbefehlen beantwortet, die Generalleutnant Lothar von Trotha 1904 und 1905 im Namen des deutschen Kaisers gegen sie erlassen hatte. Nach der Schlacht am Waterberg 1904 wurde ein Großteil der Herero-Bevölkerung in die Omaheke-Steppe getrieben, wo viele verdursteten. Die Überlebenden mussten ebenso wie gefangene Nama in Konzentrationslagern Zwangsarbeit leisten, viele starben an Hunger und Krankheiten. Im verbleibenden Jahrzehnt deutscher Kolonialherrschaft wurden sie enteignet, in Reservate gesperrt und zur Arbeit in Minen, an Eisenbahnlinien und auf Farmen gezwungen. Zu den Opfern gehörten auch Angehörige der Bevölkerungsgruppen Damara und San. Nach Schätzungen von Experten sind 80 Prozent der Herero und die Hälfte der Nama-Bevölkerung den deutschen Kolonialverbrechen zum Opfer gefallen, etwa 90 000 Menschen.
Markus Meckel, der frühere DDR-Außenminister und heutige Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, hat den Appell ebenfalls unterzeichnet, in Kürze fliegt er nach Namibia. »Wie gedenken wir, ohne zu ehren?« fragt er im Hinblick auf die deutschen Kriegsgräber am Waterberg und Windhuk. »Wenn wir die Gräber pflegen, müssen wir auch in den Blick nehmen, was die Soldaten getan haben.« Mit Vertretern der Pflegevereine, der Opferverbände und der namibischen Regierung wolle er die Frage »offen« erörtern. Dazu gehöre auch der Umgang mit den namenlosen Gräbern der Herero und anderen einstigen Kriegsgegnern. Den Appell mit mittlerweile fast 2 000 Unterschriften gaben Vertreter von Opferverbänden am Montag beim Bundespräsidialamt ab, unter ihnen der Ovaherero Paramount Chief, Vekuii Rukoro, und Ida Hoffmann, namibische Parlamentsabgeordnete und Vorsitzende des »Nama Technical Genocide Committee«. Anschließend sagte Hoffmann: »Ich bin sehr enttäuscht darüber, dass wir trotz Ankündigung unseres Besuchs vom Bundespräsidenten nicht einmal hineingebeten und schon am Eingangstor abgefertigt wurden. Geht man so mit den Nachfahren von Opfern eines Genozids um?«.

Über Jahrzehnte ignorierten politische Vertreter von BRD und DDR das Thema Völkermord. In der DDR immerhin wurde Mitte der sechziger Jahre über die Kolonialverbrechen im damaligen »Deutsch-Südwest« geforscht und der Begriff Völkermord verwendet. Fragen nach Reparationen, Entschädigung und Entschuldigung wurden aber in beiden deutschen Staaten nicht gestellt. Viel wurde von »einer besonderen Verantwortung« gesprochen, Worte wie Entschuldigung oder Völkermord fielen nicht, weil man befürchtete, dies könnte Entschädigungsforderungen begünstigen. 2004 hatte sich erstmals die damalige Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul (SPD) in Namibia für die Gräueltaten der deutschen Schutztruppe entschuldigt. Im Hinblick darauf, dass Völkermord erst 1948 von den Vereinten Nationen definiert und unter Strafe gestellt wurde, sagte sie bei ihrem Besuch vor über zehn Jahren: »Die damaligen Gräueltaten waren das, was heute als Völkermord bezeichnet würde.« »Seitdem ist nichts geschehen«, sagt Jürgen Zimmerer, Historiker der Universität Hamburg und Unterzeichner des Appells. »Kein hochrangiger Vertreter des deutschen Staates hat sich diese Entschuldigung zu eigen gemacht«, so der Leiter der Forschungsstelle »Hamburgs (post-)koloniales Erbe«.
Deutschland habe nach wie vor ein erhebliches Problem mit Rassismus. Eine kritische und reflektierte Auseinandersetzung mit der Geschichte rassistischer Verbrechen sei eine Voraussetzung für dessen Überwindung in Gegenwart und Zukunft. Die Bundesregierung hat sich zuletzt Mitte Juni in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen zum Thema geäußert. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und seine namibische Amtskollegin Netumbo Nandi-Ndaitwah (Swapo) hätten im Juni 2014 einen »Dialogprozess« begonnen. »Dieser umfasst erstmals auch die Suche nach einer gemeinsamen Haltung und einer gemeinsamen Sprache in Bezug auf den grausamen Kolonialkrieg der Jahre 1904 bis 1908«, heißt es in der Antwort. Dabei fließe der Stand der Debatten in Deutschland und Namibia mit ein, die Gespräche seien gut vorangekommen, aber noch nicht abgeschlossen. Die Bundesregierung teile die Auffassung, dass die politischen und militärischen Entscheidungsträger, die für die »Gewalt­exzesse während der Kolonialherrschaft des Deutschen Reiches über Südwestafrika verantwortlich waren, eine schwere Schuld auf sich geladen haben«. Dieses historische Erbe belaste die Beziehungen bis heute. Sie macht aber auch klar: »Die Bundesregierung sieht keine völkerrechtliche Grundlage für namibische Reparationsforderungen gegen die Bundesrepublik Deutschland.« Dies gelte unabhängig davon, welche namibischen Institutionen oder Interessengruppen solche Forderungen erhöben. Entschädigung wird bislang nur von Opferverbänden, nicht jedoch von der namibischen Regierung gefordert. Versuche, vor Gericht eine Entschädigung von den Deutschen Afrika-Linien, der Deutschen Bank und der BRD als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs einzuklagen, blieben erfolglos.
Der Ovaherero Chief Vekuii Rukoro begrüßte den Appell, in der namibischen Zeitung New Era machte er auch deutlich, dass die Nama und Herero von der Bundesregierung schnelle Schritte erwarten: »Komme Hölle oder Hochwasser, niemand wird uns von dem Fall abbringen. Deutschland, Sie haben bis zum 2. Oktober Zeit, um den Aufruf Ihrer Bürger zu beachten.« Am 2. Oktober vor 111 Jahren hatte von Trotha den Vernichtungsbefehl ausgegeben.