Premesh Lalu im Gespräch über Kino, Rassismus und Neoliberalismus in Südafrika

»Postapartheid ist kein Event«

Premesh Lalu, Professor für Geschichte und Direktor des Center for Humanities Research an der Universität von Western Cape, über die Zukunft der Erinnerung in Südafrika, den Einfluss des Kinos auf die Gesellschaft und den Rassismus des Neoliberalismus

In den letzten Monaten wurde Südafrika von einer Welle fremdenfeindlicher Ausschreitungen erschüttert, sieben Menschen starben, 5 000 sind obdachlos geworden. Wo liegen die Gründe für diese Eruption der Gewalt?
In den letzten Wochen war ich nicht in Kapstadt, ich versuche den Ereignissen so gut wie möglich aus der Distanz zu folgen. Aber jedem ist bewusst, dass dies ein sehr gefährlicher und schwieriger Moment ist, es geht um das Modell eines Südafrika der Postapartheid. Die Situation ist sehr komplex und birgt große Gefahren, sie verlangt sofortige Interventionen und unsere volle Aufmerksamkeit. Doch dies ist nicht allein eine südafrikanische Debatte. Die Zusammenstöße mit ihrer extremen Gewalt gegen, wie wir sie nennen, »foreign nationals«, ereignen sich gleichzeitig mit der jüngsten Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer. Das ist eine weltweite Krise, die ich »globale Apartheid« nenne. Die Vorfälle müssen in diesem globalen Kontext betrachtet werden. Damit ist nicht so einfach fertigzuwerden.
Es geht also nicht nur um das Vermächtnis der Apartheid in Südafrika, sondern um eine »globale Apartheid«?
Nur vom Vermächtnis der Apartheid zu sprechen, würde die Dinge zu sehr vereinfachen. Natürlich ist es immer auch das Vermächtnis der Apartheid, das weiterhin wirkt. Es geht aber mehr um die Wirkung und die Mechanismen von Apartheid. Eine große Zahl anderer Dynamiken ist wirksam. Die soziale Struktur Südafrikas beruht auf Migrantenarbeit. Die Goldminenindustrie stützt sich auf Gastarbeitern. Wir haben noch sehr viel zu tun auf diesem Gebiet. Ich möchte darauf verweisen, dass dies ein Moment ist, in dem wir aufgefordert sind zu denken: nachzudenken über die Art und Weise, wie die Postapartheid auszusehen hat. Dies ist nicht nur eine südafrikanische Frage, sondern eine Frage, die uns alle betrifft.
Manifestiert sich diese globale Apartheid in einer Zukunftsangst, die Individuum und Gesellschaft befallen hat und ihnen alle Energie nimmt?
Man kann den Neoliberalismus als Ausgangspunkt bezeichnen. Ich habe oft argumentiert, dass der Neoliberalismus nicht nur ein Modell für die wirtschaftliche Entwicklung ist, sondern eine Rassentheorie. Eine der Schlüsselfiguren der neoliberalen Doktrin, William Harold Hutt, lehrte ab den dreißiger Jahren lange an der Universität von Kapstadt. Er setzte sich mit der Apartheid als Antwort auf den Liberalismus und dem aufkommenden Trend des afrikanischen Nationalismus in den vierzigern und fünfziger Jahren auseinander. Südafrika war immer Teil globaler Mechanismen: Von den Tagen der Sklaverei – Südafrika war die einzige afrikanische Gesellschaft, die selbst Sklaven aufnahm – über die Manifestierung einer liberalen Doktrin bis zu der Art und Weise, in der von der Apartheid gedacht wurde, sie könne jene Probleme lösen, an denen der Liberalismus gescheitert war. Entstanden ist daraus ein sehr komplexes soziales Gebilde. Eine finale Aus­einandersetzung mit dem Begriff »race« und der Frage wie das Problem anzugehen ist, steht noch aus. Ich bin fasziniert von Bernard Stiegler, einem französischen Philosophen, der jüngst das Buch »Decadence of industrial democracies« veröffentlicht hat. Er macht darin einen einfachen Vorschlag: Was würde es bedeuten, ein neues Europa zu formen, das nicht eurozentristisch ist? Es gibt einige Bewegungen, die uns zusammen über die Problematik, die auf der Agenda ist, denken lassen. Natürlich sind da noch mehr Philosophen, Jacques Derrida war einer davon, er schrieb das Stück »Le Dernier Mot du Racisme« anlässlich einer Austellung in den achtziger Jahren und rief dazu auf, Apartheid als eine Losung für »différence« zu lesen. Die Ereignisse in Südafrika, im Mittelmeerraum, überall rund um den Globus, die Probleme mit Einwanderern und Integration – dies zeigt die Notwendigkeit und gibt uns gleichzeitig die Gelegenheit, über die Konstitution einer Zukunft nachzudenken, die Chancen bietet.
Noch in den späten neunziger Jahren sprach der damalige südafrikanische Präsident Thabo Mbeki voller Enthusiasmus von der Idee einer panafrikanischen »Renaissance« und sah Südafrika als potentielle Führungsnation. Was ist ihre Vision von Südafrikas Zukunft?
Ich denke, Mbekis Projekt war eines unter vielen, dessen Schwung vergangen ist. Mittlerweile gibt es anderes Ideenmaterial auf dem Kontinent, mit dem es sich zu befassen lohnt. Mich interessiert, wie Afrika als etwas über die bestehenden geographischen Territorialgrenzen Hinweggehendes gedacht werden kann. Dies ist eine Frage, der auch Europa nicht entkommen kann. Es geht mir nicht darum, dass Europas Wohltätigkeit gegenüber Afrika wieder und wieder zur Debatte steht, sondern darum, über die neuen Möglichkeiten der Zukunftsgestaltung nachzudenken und eine Debatte anzuregen. Was wir gesehen haben, ist eine Überdeterminierung der Technologie als Lösung aller afrikanischen Probleme. Wo immer man hinschaut, findet sich eine Grundstimmung, die die Technologie als Lösung ansieht. Dies führt vielmehr zu einer Art von Unterentwicklung und einer großen Krise im Umgang mit den fundamentalen Problemen des Kontinents. Mir geht es darum, die Beziehung zwischen Mensch und Technologie zu überdenken. Damit möchte ich technische Lösungen nicht abwerten, sondern eine Neuausrichtung dieser Verbindung anregen. Die Frage ist nicht: »Was muss getan werden?«, sondern: »Was kannst du tun?« Diese Frage müssen wir in unseren Diskurs über die Postapartheid einbeziehen.
Ein Beitrag dazu ist die Aufarbeitung der Apartheid in der historischen Erinnerung. Wie geht Südafrika damit um? Wie und wo manifestiert sich historische Gedächtnisarbeit? In Museen, Gedenkstätten, Archiven?
In Afrika und besonders in Südafrika findet eine Überproduktion von Erinnerung statt, die ich »Industrialisierung der Erinnerung« nenne. Ich möchte die Strukturen unserer Erinnerungsprozesse hinterfragen, die uns dazu anhalten, Erinnerung als einheitliches Gebilde zu verstehen. Ich beschäftige mich schon mein ganzes Leben mit Nietzsche und Fragen zu Nutzen und Verantwortung von Geschichtswissenschaft. An einem Punkt entsteht die Notwendigkeit zu vergessen. Hier kommt die Poten­tialität des Lebens ins Spiel. Wenn wir die beiden Faktoren Erinnerung und Kunst zusammendenken, können sich Wege und Denklinien ergeben, unsere Zukunft und Gegenwart neu auszurichten. Als Beispiel: In Athlone, einem Vorort von Kapstadt und Schauplatz der Studentenunruhen in den achtziger Jahren, besteht die historische Erinnerung einzig aus Mahnmalen und Gedenkstätten an Gräueltaten. 1985 hatte dort das Trojan Horse Mas­sacre stattgefunden, zwei junge Männer wurden getötet. Aber diesen Ort der Erinnerungskultur nur als Schauplatz der Grausamkeit abzubilden, führt zu einem Kreislaufeffekt, einem dauerhaften Erhalt des Gefühls, das Opfer von Gewalt zu sein, ohne sich davon zu lösen. Wenn man sich vergegenwärtigt, wo Kunst in Kapstadt vorhanden ist, fällt auf, dass diese nur an wenigen Orten Platz findet. Momentan entsteht eine neue Galerie im Hafenviertel, die das größte Museum für zeitgenössische Kunst in Afrika beherbergen wird, gestiftet von deutschen Geldgebern. Doch auf diese Weise wird das Gefühl einer geteilten Stadt wieder verstärkt. Kunst und die Grausamkeit der Vergangenheit werden in abgetrennten Räumen separiert. Dies geschieht im Kontext des ökonomischen Entwicklungsgedankens. Apartheid konnte sich zuerst in jenen Räumen auflösen, die von Gewalt und Grausamkeit gezeichnet waren. Dort gab es die größte Kreativität und Bereitschaft, sich auf neue Denkmodelle einzulassen. Dort wurde der Traum der Postapartheid geboren.
Sie beschäftigen sich viel mit dem Einfluss des Kinos während der Apartheid. Welche Rolle können Kino und Film im Erinnerungsprozess spielen?
Das Kino spielte im ganzen Land eine bedeutende Rolle. Es’kia Mphahlele beschreibt dies in seinem Buch »Down Second Avenue«, das ein großer Erfolg war. In Athlone gab es auf einer Fläche von einem Quadratkilometer vier Kinos, die jeden Samstag von 8 000 Menschen besucht wurden, und das über einen Zeitraum von 30 Jahren. Das politische und kulturelle Bewusstsein wurde zu großen Teilen durch das Kino geprägt. Doch das Kino und sein Einfluss gehören zu jenem Teil der Erinnerung an die Apartheid, der vergessen wird. Wir sollten uns dies nicht nur erneut vor Augen führen, sondern über jenes Bewusstsein nachdenken, das zur politischen Auflösung der Apartheid geführt hat und nicht nur durch das Kino beeinflusst wurde, sondern in seiner Zeitlichkeit in gewissem Sinne selbst kinematographisch war.
Wie ist diese Prägung zustande gekommen? Gab es bestimmte Protagonisten oder Rollen, die im Alltag verboten oder unterdrückt wurden?
Die Wirkung des Kinos kann sich unterschiedlich entfalten, es kann sowohl Gangster produzieren als auch Helden und Widerstand. Doch mir geht es nicht um direkte Rollenmodelle. Was in den Kinos passierte, war die Revitalisierung der Idee von Bewegung und Beweglichkeit, die von der Apartheid unterdrückt wurde. Während das Regime versuchte, das Leben auf die Arbeit zu reduzieren, bot das Kino Vergnügen und Sehnsüchte. Es öffnete sich ein Raum, in dem sich ein neues Bewusstsein bildete. Im Bereich der philosophischen Theorie sind wir hier nahe bei Edmund Husserls Phänomenologie und der »tertiären Erinnerung« von Bernard Stiegler. Interessant daran ist, dass wir die phänomenologische Philosophie einer anderen Zeit und eines anderen Kontinents in neuen Konstellationen und Beziehungen anwenden und sie damit neu denken können. Der Widerstand war kein direktes Produkt des Kinos, sondern jenes Bewusstseins, das durch das Kino als Raum für Freiheit und Kreativität innerhalb der Apartheid-Gesellschaft mitgestaltet wurde. Die cineastische Kraft schuf ein neues Geflecht der Beziehungen, die aber keineswegs in der einen oder anderen Weise determiniert sind. Beispielhaft dafür ist das Aufkommen des Melodrama-Genres. Im Melodram finden sich potentiell gefährliche Elemente, es enthält faschistische Tendenzen. Studien, die sich mit der Melodramatik im indischen Kino auseinandersetzten, verweisen auf den Nationalismus, der durch dieses Medium geprägt wurde. Durch das Kino war es auf einmal möglich, römische Epen zu sehen und sich mit Kirk Douglas’ »Spartacus« zu identifizieren. Für den Einfluss auf die Widerstandsbewegung lassen sich keine harten Fakten anführen. Aber den Widerstand ohne das Kino zu denken, bedeutet, einen fundamentalen Teil des intellektuellen Hintergrunds auszusparen.
Was assoziieren Sie mit dem Begriff der »Future Memories« und wo liegt die Verbindung zu Südafrika?
Wie werden wir die Apartheid in zwanzig Jahren erinnern? Heute denken Schüler bei Apartheid an Hautfarbe, nicht an das System der Bevölkerungskontrolle und Registrierung, nicht an den technologischen Apparat der rassistischen Unterdrückung. Die Erinnerung wird sich von unserer heutigen unterscheiden und wir müssen schon heute damit beginnen, an der Erinnerungskultur zu arbeiten. Diese Erinnerung darf nicht dazu benutzt werden, die Möglichkeiten der Postapartheid abzustumpfen und herunterzuspielen und jene »Struktur des Gefühls« zu zerstören. Wir sind schnell zu einem rassistischen Diskurs in Südafrika zurückgekommen, weil wir uns nicht vergegenwärtigt haben, welche Kraft in jener Sehnsucht, jenem Verlangen nach der Postapartheid gelegen hat. Denn diese Sehnsucht nach der Post­apartheid ist für uns genauso wichtig wie all die Erinnerungen an die erlittenen Grausamkeiten und die Gewalt.
Dieser Prozess der historisch-psychologischen Aufarbeitung wird also fortgesetzt, das Vermächtnis der Apartheid und ihrer Diskurse ist noch nicht gelöst?
Apartheid muss als Teil jener Machttechniken zur Kontrolle einer Gesellschaft verstanden werden, die Michel Foucault mit dem Begriff der »Biomacht« beschrieb. Entscheidend ist, wie Südafrika die Entstehung des modernen Staates pervertierte. Die Aufgabe war es, ein tief von Gewalt und Tod durchdrungenes System umzuwandeln. Was ist der richtige Weg, ein Leben in Konfrontation mit den Tiefenstrukturen der Biomacht zu führen? Dies ist ein ­gewaltiger und überwältigender Denkprozess, der sehr viel Raum und Zeit benötigt. Der phi­losophische Begriff der »dureé« (Dauer, Anm. d. Red.), zurückgehend auf Henri Bergson und Husserl, beschreibt das sukzessive Strömen von Gedanken und Handlungen, eine schöp­ferische Qualität, die freies Handeln erst ermöglicht. Diese Denkfigur hat einen Flügel politischen Denkens in Afrika geprägt und kann uns dabei helfen, unser Denken aus festgefahrenen Schemata zu befreien, um die Sensibilität für jenes Bewusstsein der Sehnsucht nicht zu verlieren. Darin manifestiert sich die Postapartheid. In der Ideologie des Apartheid-Regimes stellte sich dieses als alternativloser Schutz­mechanismus gegen das apokalyptische Szenario einer Kollision, eines »großen Knalls«, dar. Nicht nur die einzelnen Staaten, sondern auch Afrika als Kontinent wird oft so dargestellt, als ob der große Crash kurz bevorsteht. Post­apartheid ist kein Event oder eine Periode, sie manifestiert sich im Denkmodell der »Dauer« als stetiger schöpferischer Prozess. Beim Anhören von Jazz-Kompositionen, etwa der Klavierarbeiten Abdullah Ibrahims, lassen sich Motive dieses Gedankens erkennen, die dazu einladen, tiefer gehend und kritischer zu denken.
Könnten die Protestmärsche gegen die Gewalt und Xenophobie auch eine Chance ­bieten, die alten Ideale der Anti-Apartheid-Bewegung und den Traum von der Postapartheid zu erneuern?
Vieles, was in den vergangenen Jahren geschehen ist, wurde immer noch getragen von der Dankbarkeit im Sinne eines kollektiven Katers nach dem Sturz des Regimes, der auch durch die organisierten Aktionen der Menschen herbeigeführt wurde. Zum Glück existieren noch Strukturen, die es uns erlauben, kollektiv »nein« zu sagen zu einem bestimmten Grad der Gewalt. Ein Artikel von Judith February fragt genau danach, ob die Märsche dazu beitragen können, das große Problem zu lösen. Aber es existiert noch eine andere Dimension des Ganzen, und diese bekommen wir nur durch harte Arbeit und Geduld zu fassen. Diese Arbeit besteht nicht nur in Entwicklungsarbeit, sondern auch in ästhetischer Bildung. Dafür muss ein Bewusstsein geschaffen werden. Die Frage ist auch, wie die Ideale der Postapartheid auszusehen haben. Denn eine der am tiefsten verwurzelten Überzeugungen war, dass Rasse im neuen Leben in der Postapartheid absolut keine Rolle zu spielen habe. Und wenn es aber genau dies ist, was wir gerade beobachten, dann haben wir einen Beweis, dass wir uns nicht an die Verpflichtung gehalten haben, nach der Rasse niemals zu einem fundamentalen Pfeiler der neuen Gesellschaft werden dürfe. Das strukturelle Vermächtnis der Apartheid ist nach wie vor überall zu sehen. Auch nach 20 Jahren haben wir nach wie vor nur wenige schwarze südafrikanische Professoren an den Universitäten. Ich möchte nichts davon herabsetzen oder kleinreden. Der Staat inter­veniert nun innerhalb der Institutionen, aber es bleibt ein großes Problem. Das bisher Geschehene reicht einfach nicht, wir müssen viel, viel mehr tun. Aber darüber hinaus ist es das Ziel, die Postapartheid zu einer realen Alternative zu machen, in der wir leben können. Ich halte meine Vorträge, um Leute einzuladen, gemeinsam mit uns über all diese Fragen nachzudenken.