Lale Akgün im Gespräch über das Kopftuchverbot und die Neutralität des Staates

»Es geht um Kontrolle«

Die Psychotherapeutin Lale Akgün saß von 2002 bis 2009 für die SPD im Bundestag. Die Kölner Politikerin beschäftigt sich mit der deutschen Debatte über Integration und setzt sich für die Gründung eines Verbandes liberaler Muslime ein. Die Jungle World sprach mit Akgün über das Kopftuchverbot, Political Correctness und den Neutralitätsanspruch des Staates.

In einem Aufruf zu einer Demonstration in Berlin-Neukölln hieß es jüngst: »Kopftücher sind ebenso wie Hochsteckfrisuren, Kippot oder Hüte ein Teil Neuköllns. Wir repräsentieren diesen Bezirk und dieses Land, und fordern das Recht ein, diese Repräsentation auch in öffentlichen Ämtern wahrnehmen zu können.« Wie stehen Sie dazu?
Diese Aussage ist einfach naiv. Ein Kopftuch ist eben nicht das gleiche wie eine Hochsteckfrisur. Ein Kopftuch ist ein religiöses und politisches Symbol und hat deswegen im öffentlichen Dienst nichts zu suchen. Die Leute können privat tragen, was sie möchten, aber der Staat ist neutral. Naive Vorstellungen wie »Wir sind ein buntes Neukölln« können auf einem Straßenfest ausgelebt werden, aber nicht, wenn es um die Repräsentation des Staates geht.
Das Berliner Neutralitätsgesetz betrifft nicht nur Kopftücher, sondern auch zum Beispiel die Kippa.
Das ist verständlich, und es geht beides nicht. Beides sind religiöse Symbole, und gerade in einer buntgemischten Gesellschaft sollten wir bei der Neutralität keinerlei Abstriche machen. Die Kippa gehört genauso wenig in den öffentlichen Dienst, wie die Kleidung von Baghwan-Anhängern oder ein Kreuz um den Hals. Der Staat hat keine Religion, darauf lege ich großen Wert. Wenn wir anfangen, hier Abstriche zu machen, kommen wir in Teufels Küche.
Was meinen Sie mit Teufels Küche, um welche Gefahren geht es Ihnen konkret?
Vom Neutralitätsanspruch des Staates her gesehen sind die Beamten die Repräsentanten des Staates. Der Staat muss Äquidistanz zu allen Religionsgemeinschaften entwickeln. In dem Moment, in dem zum Beispiel ein Turbanträger vor mir sitzt, hat der Staat aber eine Sikh-Religion.
Bürger müssen das Gefühl haben können, dass der Mensch, der ihnen als Beamter gegenübersitzt, in seinen Entscheidungen neutral ist und nicht von seiner Religionszugehörigkeit beeinflusst wird. Angenommen aber, mir sitzt eine Richterin mit Kopftuch gegenüber. Wer garantiert mir bei einer Person, der es offensichtlich so wichtig ist, ihre Religion auch im Dienst auszuleben und zu präsentieren, dass ihre Entscheidungen nicht auch durch Religion beeinflusst werden? Und wie fühle ich mich als Atheistin, wenn mir eine Frau mit Kopftuch oder ein als Katholik erkennbarer Richter bei einem Scheidungsprozess gegenübersitzt?
Es gibt heute in Deutschland nicht mehr nur Katholiken, Protestanten und ein paar Ungläubige, sondern eine wachsende Vielfalt von Religionsgemeinschaften. Wenn all diese vom Staat repräsentiert werden möchten, haben wir eine Interessenkollision. Das, was über diesen Gruppen stehen müsste, nämlich der neutrale Rechtsstaat, wird dadurch verwässert. Zuerst muss der Rechtsstaat kommen, der etwa in Sachen Ehe oder Scheidung eine verbindliche Regelung vorgibt. Dann kann ich als Muslim oder Katholik privat die Vielehe fordern oder die Homoehe verteufeln. Das hat aber dann rechtlich keine Konsequenzen, weil diese Forderungen auf staatlicher Ebene keine Entsprechung finden und nicht ausgelebt werden können.
Eine Beamtin mit Kopftuch könnte aber nicht einfach ihre eigenen Regeln machen, sie ist durch die gegebenen Gesetze und ihren Amtseid gebunden. Man weiß ja, dass es etwa in Polizei und Justiz jede Menge Menschen mit unfreundlicher Weltsicht gibt, und es werden wohl auch einige äußerlich nicht erkennbare streng islamische Männer dabei sein. Warum genügt der Amtseid nicht?
Das genügt aus dem gleichen Grund nicht, aus dem ein vereideter Beamter im Dienst nicht ein Abzeichen einer politischen Partei tragen kann. Die Vertreter müssen als neutral wahrnehmbar sein. Ein alter Beamter erzählte mir, dass der Neutralitätsanspruch früher so weit ging, dass in den fünfziger und sechziger Jahren Beamte im Rheinland selbst in ihrer Freizeit nicht bei katholischen Fronleichnamszügen mitlaufen durften, damit protestantische Bürger nicht das Gefühl haben könnten, dass der Beamte sie aus religiösen Gründen anders behandelt. Das ist heute anders, weil man auch Privatsphäre heute anders beurteilt.
Warum wird bei den ganzen Debatten in letzter Zeit so selten mit dem grundsätzlichen Neutralitätsgebot argumentiert, wie Sie das tun, und stattdessen konkret über die Bedeutung und die Zulässigkeit des Kopftuches gesprochen?
Weil das Kopftuch ein sehr emotionales Thema ist. Es ist ja nicht nur ein Stück Tuch, sondern es hat mit der Bedeckung der Frau zu tun. Man kann versuchen, das Kopftuch umzudeuten wie man will, als ein Stück Freiheit et cetera, aber letztlich ist jedem klar, dass das Kopftuch Bedeckung der Frau heißt. Und die Bedeckung der Frau ist etwas, das wir als emanzipierte Frauen in jahrhundertelangen Kämpfen abgeschafft haben. Es geht um die grundsätzliche Gleichstellung von Mann und Frau, die wir gutheißen und vorantreiben wollen, und das wird vom Kopftuch konterkariert.
Ist es nicht eine Sackgasse, dem Kopftuch eine so eindeutige Bedeutung geben zu wollen? Es gibt ja sehr viel Forschung von Islamwissenschaftlern, Soziologen und Migrationsforschern, die bei Frauen sehr unterschiedliche Motive für das Tragen von Kopftüchern herausgearbeitet haben, und nicht immer geht es dabei um den politischen Islam.
Was ich sehe, ist, dass eine Frau sich den Kopf bedeckt hat. Sie versteckt sich unter einem Tuch. Und es bleibt ja nicht bei diesem Tuch, sie zieht lange Kleidung an. Es geht darum, den weiblichen Körper zu bedecken. Es geht um die Bestimmung des Mannes über den weiblichen Körper. Wenn Frauen sich diese Sichtweise zu eigen machen, ist das bedauerlich, aber sie sollten nicht bestreiten, dass es um die Kontrolle des weiblichen Körpers geht – des Körpers als Objekt. Natürlich kann man Erklärungen finden: das Kopftuch als ein Übergangsobjekt, als ein Medium, gesellschaftliche Brüche zu überwinden, als ein Schutz und dass es freiwillig getragen wird. Wir wissen, wie Frauen männliche Sichtweisen übernehmen, weil sie am männlichen Machtgefüge partizipieren wollen. Und ich habe nicht selten Mütter erlebt, die ihre Töchter halbtot geprügelt haben, weil diese gegen weibliche Verhaltensvorschriften verstoßen haben. Der Mensch hat ein Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper. Das sehe ich in dem Moment nicht mehr, in dem Frauen sich bedecken, die Männer aber nicht.
Ist es nicht widersprüchlich, mit Männermacht und dem Selbstbestimmungsrecht der Frau zu argumentieren und dann Frauen den Zugang zu Berufen zu verwehren, also gerade Frauen, die zwar Kopftuch tragen wollen, aber eben auch studiert haben und einen einflussreichen Posten im Staatsdienst anstreben?
Wenn eine Frau sich selbst bedeckt, ist das eine Übernahme der männlichen Sichtweise, nach dem der Körper der Frau kontrolliert werden muss. Privat kann sie das machen, auch wenn es mir nicht gefällt. Aber eine Lehrerin mit einem solchen Weltbild ist kein Vorbild für Mädchen. Wenn einer Mehrheit die Neutralität des Staates nicht mehr gefällt, kann man ja die Gesetze ändern. Aber dann bekommen wir Zustände wie etwa in der Türkei oder in Südamerika, wo sich der Staat nach der regierenden Partei färbt. In Deutschland ist das nicht so, es gibt eine politische Ebene, welche die Zielrichtung bestimmt, aber der Staat bleibt neutral.
Momentan sind es ja in Deutschland nicht die Regierungen, sondern die Gerichte, die Veränderungen bewirken. Ein generelles Kopftuchverbot wurde vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt, das gilt einer Expertenkommission zufolge auch für das Berliner Neutralitätsgebot.
Auch ein Verfassungsgericht ist nicht davor gefeit, schlechte Urteile zu fällen, und dieses Urteil war schlecht. Die Schulen sollen jetzt entscheiden, wann der Schulfrieden gefährdet ist. Wann aber ist das der Fall? Wenn ein Teil der Eltern protestiert? In einem Stadtteil wie Neukölln sehe ich nicht, dass Eltern gegen das Kopftuch Beschwerde einlegen. Sie werden leise und still wegziehen, ihre Kinder an anderen Schulen anmelden, es wird zu Segregationen an Schulen und in Stadtteilen kommen. Die Intention des Gesetzes, einen Beitrag zur Integration zu leisten, wird somit konterkariert.
Fänden Sie es auch legitim, wenn private Unternehmen Mitarbeiter mit religiösen Symbolen ausschließen?
Das wäre je nach der Unternehmensphilosophie sicherlich legitim. Man darf das Kopftuch nicht mit einem physischen Merkmal und den Ausschluss von kopftuchtragenden Frauen nicht mit Diskriminierung gleichsetzen. Es gibt genug Lehrerinnen, die das Kopftuch während der Arbeit abnehmen und danach wieder aufsetzen, es geht also. Gegen das Kopftuch zu sein, ist nicht rassistisch, das möchte ich unterstreichen.
Gegen das Kopftuch zu sein, ist nicht rassistisch, aber viele der Leute, die gegen das Kopftuch sind, sind Rassisten.
Wir müssen zwischen Rassismus und berechtigter Kritik unterscheiden und Dinge ohne Angst benennen können. Zu viele Menschen haben in Deutschland Angst vor Applaus von der falschen Seite und halten den Mund. Wenn wir Pegida oder der neuen Rechts-AfD das Wasser abgraben wollen, müssen wir Klartext reden. Es ist unredlich, sexistisches und machohaftes Verhalten aus Gründen der Political Correctness in Schutz zu nehmen. Mich ärgert auch die Haltung, wonach alle Migranten Opfer sind und von redlichen Deutschen gestreichelt und geliebt werden müssen. Wo bleibt denn da die berühmte Augenhöhe? Dieser ganze Klimbim wie dieser Aufmarsch in Neukölln, das ist positiver Rassismus. Wir reden immer nur über die Unterschiede, nie über das Gemeinsame. Wenn Sie etwas gegen Rassismus tun wollen, dann sorgen Sie dafür, dass dieses blöde Gerede vom »Migrationshintergrund« abgeschafft wird! Kinder werden so auch noch in der dritten Generation diskriminiert, wenn sie in der Klasse als anders dargestellt werden. Statt aber darüber zu streiten, wie diese Gesellschaft zusammenwachsen kann, wird das anachronistische Kopftuch verteidigt. Das tut nicht weh und man kommt sich dabei auch noch gut vor.