Es gibt in Deutschland keine Opposition

Du bist Deutschland!

Was vor 25 Jahre von westdeutschen antinationalen Linken gerufen wurde, ist heute eine internationale Losung geworden. Ein Rückblick und einige Gedanken über Deutschlands Rolle in Europa zum Abschluss unserer Disko-Serie.

Das Vierte Reich
»Heute wird niemand behaupten, dass sich Befürchtungen von einem Vierten Reich bewahrheitet hätten.« »Derartige Analysen sind inzwischen obsolet geworden. Deutschland hat sich modernisiert«.
So steht es in Texten von Ex- und Noch-Anti­deutschen: Die Warnung vor einem Vierten Reich als zeitbedingter Alarmismus. Tatsächlich ging es damals nicht um die Behauptung einer Wiederkehr des Nazi-Reiches, sondern um die Erwartung eines expansionistischen preußisch-protestantischen Reiches in Europa, wie es erstmals nach der »Wiedervereinigung« von 1871 entstanden war. Die dieser Gründung vorgängige Reichsidee meinte eine germanische Kulturnation, die über den Nationalstaat hinausdrängt.
Die Reichsidee blieb auch danach ein Gegenentwurf zur westlichen Konzeption der republikanischen Nation. Und heute? Nicht zufällig sitzt das deutsche Parlament wieder im Reichstag und wird in Berlin-Mitte ein Stadtschloss errichtet. Die alte Reichsidee lebt auch in den aktuellen deutschen Europa-Konzepten weiter. Immer wieder wird eine als postnationaler Staat verfasste EU gefordert. Vor allem Frankreich erkennt in solchen Angriffen das deutsche Ressentiment gegen die Republik. Mehrfach wurde der verlangte Souveränitätsverzicht als Bismarck-Politik bezeichnet. Es bleibt daher offiziell bei einem kapitalistischen Europa der Nationen.
Doch inzwischen zeichnet sich ab, dass das postnationale German Empire auf außerparlamentarischem Weg doch noch Wirklichkeit wird. Deutschland ist gerade dabei, die nationale Souveränität der anderen über die Fiskalpolitik auszuhebeln.

Land der Maschinen
Deutschland hat dazu die Macht, weil auch seine Wirtschaftsdominanz auf antimodernen Voraussetzungen beruht: Erstens auf Volksgeist statt Klassenbewusstsein. Die teutonische Wirtschaftsmaschine speist sich aus einem Strom psychischer Energie – Disziplin, Berechenbarkeit, Strenge, Verzicht –, die etwas Metaphysisches hat und mit einem eigenartigen Technikkult einhergeht. Nicht zufällig brachte diese Arbeitskultur mit der Techno-Musik ein Milieu hervor, das entscheidend zur kulturellen Identität der Berliner Republik beigetragen hat. Länder, in denen die Menschen das Leben lieben, haben gegen diese Turbo-Exportmaschine keine Chance. Zweitens hat Deutschland schon in den achtziger Jahren mit staatlichen Programmen die Deindustrialisierung zum Stillstand gebracht, während zivilisierte kapitalistische Länder seit Anfang der sechziger Jahre die Fabrikarbeit los werden wollten. Diese Utopie eines Fortschreitens der Zivilisation zur Befreiung von den Zwängen der technischen Welt gibt es im arbeitswütigen Deutschland nicht. Mit der Artillerie seiner wohlfeilen Maschinen machte es Europa zu seinen Schuldnern.

Die EU – vom Staatenbund zur Zwangsvereinigung
Ohne die postnationale Europa-Regierung, die Deutschland will und die es gerade deswegen nicht geben wird, fehlen die machtpolitischen Garantien für den Euro als Konkurrenzwährung zum Dollar. In dieser Situation wird das reiche Deutschland zum außerparlamentarischen Ersatz-Souverän, dessen hartes Finanzregime die Nationalstaaten zur Aufgabe ihrer Souveränität zwingt. Aus der ökonomischen Vormacht, die allein die umlaufenden Euro-Kredite garantieren kann, wird so die faktische EU-Regierung. Damit ist das Vierte Reich fast gänzlich hergestellt. Die EU ist jetzt eine Zwangsvereinigung unter deutscher Aufsicht, aus der auszuscheiden einem Totalabsturz gleichkommt, während die Mitgliedschaft zu dauerhafter Schwindsucht führt. Eine Grenze setzt lediglich noch Frankreich, das seine Rolle als Deutschlands Partner spielt, um seinen Kredit nicht zu verlieren. Deutschland nutzt die EU jetzt fast beliebig zur Durchsetzung seiner politischen Ambitionen: Ostexpansion, Herausforderung Russlands und der USA, Deals mit dem Iran.

Von drinnen sieht alles viel netter aus
Unter den Bedingungen der begrenzten Souveränität hatte die BRD eine Kultur der leisen Subversion und friedlichen Eroberung entwickelt, die bis 1990 als Staatsräson für das politische Personal verbindlich war. Mit dem Machtzuwachs 1990 war absehbar, dass ein neuer Triumphalismus auch die politische Klasse erfassen wird, was bei den Bürgern zu einer Enthemmung führen musste. 84 Prozent von ihnen finden es nun gut, dass Deutschland »die ökonomische Vormacht in der EU ist« und die anderen in die Zange nimmt.
Es erwies sich 1990, dass die Herrschaftsreserve des vereinten Deutschlands aus drei Gruppen besteht: Die West-Achtundsechziger (damals um die 40), die PDS (Achtundsechziger und jünger) und die progressive Kulturszene (damals zwischen 20 und 40). Die West-Achtundsechziger machten aus dem Staat der Revanchisten einen Staat der antinationalen Antifaschisten (»Nie wieder!«-Bomber über Belgrad). Die westdeutschen Pop- und Kulturszenen strömten nach dem Mauerfall nach Berlin zum »Tanz auf dem Todesstreifen« (Filmtitel). Mit Club Culture und Hausbesetzungen bereiteten sie den Umzug der Regierung von Bonn (alte Provinz) nach Berlin (neue Weltmetropole) vor.
Die Loveparade veränderte den Blick auf die Hauptstadt der Endlösung. Die »Berliner Seiten« der FAZ wurden zum Querfront-Treffpunkt von Poplinken und Poprechten. Ex-Punker konnten nun Kulturstaatssekretäre werden, Gedenkstättenmitarbeiter Lehrbeauftragte an der Bundeswehrhochschule, FAZ-Redakteure Konkret-Autoren. Wie 1871 soll das Reich nicht nur machtpolitisch, sondern auch kulturell siegreich sein. Damals ging es um die Erringung der geistigen Führung in Europa.
Im Osten, der zur Peripherie des westdeutschen Kapitals wurde, entstand mit der PDS eine Regionalagentur für Gemeinschaftsanstrengungen zur Vollendung der inneren nationalen Einheit. Zunächst nur Vertretung der vorgeblich betrogenen Ostdeutschen, verführte sie später westdeutsche Linke zum Parlamentarismus.
Getragen von dem Interesse an einem präsentablen Deutschlandbild hatte nach 1990 eine lebendige Ineinswerdung der Deutschen stattgefunden, eine plurale Gleichschaltung aus freiem Willen. Unter diesen Bedingungen zahlt fast jede Kritik an den deutschen Zuständen auf das nationale Konto ein (»Aufstand der Anständigen«).
Es gibt in Deutschland keine Opposition. Linke Kritiker sprechen von einer »Großmacht wider Willen«. Nationalsozialistischer Straßenterror, Folter im Flüchtlingsheim, die NSU-Morde, gewalttätige antiisraelische Hassdemonstrationen, all das, was auch nach 25 Jahren angeblicher »Zivilisierung« weiterhin Tagesgeschehen ist, gilt nur als peinliche »Schande für Deutschland«. Schlimmer ist Landesverrat: »Das Duckmäusertum der Bundesregierung gegenüber der US-Regierung muss endlich überwunden werden.« (Gregor Gysi)

Antideutsche Allianz
Den Deutschen geht es richtig gut. Ihre ökonomische Macht verleiht ihnen politische und persönliche Kommandogewalt. Je jünger, desto herrischer treten sie auf. Niemand wird hier diesem Land jemals in den Rücken fallen. Die Zuversicht ins Gelingen von Deutscheuropa war bisher grenzenlos – bis die Griechen für einen kurzen Moment den Vorhang wegzogen und die ganzen Machtverhältnisse sichtbar machten. Gegen das Vierte Reich bildet sich unvermeidlich eine antideutsche Allianz. Es werden dubiose Kräfte dabei sein, aber auch Verteidiger der Republik. Entlang der historischen Linien werden sich auch die prodeutschen Länder formieren. Trotzdem: 25 Jahre danach wird »Nie wieder Deutschland« (wieder) eine internationale Losung.

»Nie wieder Deutschland« 1989
Über den Ursprung des Imperativs »Nie wieder Deutschland« gibt es viele falsche Auskünfte. Sie könnten einem gleichgültig sein, würde nicht ausgerechnet ein Jürgen Elsässer seit Jahren ständig behaupten: »›Nie wieder Deutschland‹ – dieser Slogan wurde von unserer Polit-Gruppe in Stuttgart zu Jahresanfang 1990 erfunden, im Zweifelsfall liegt das Copyright bei mir«, so sagte er es im Interview mit der Jungle World (46/07)
In Wirklichkeit war es so: Kurz nach der Grenzöffnung am 9. November 1989 entstand in Hamburg die Gruppe Rotes Forum, die jeden Montag Kundgebungen gegen die drohende Wiedervereinigung veranstaltete. Beteiligt waren Einzelpersonen und Zirkel, von denen sich einige bereits in den achtziger Jahren als Kritiker der Grünen und der Friedensbewegung betätigt hatten. Diese Gruppe lud im November 1989 Vertreter linker Organisationen ein, um sie zum Handeln gegen die Wiedervereinigung zu bewegen. Nach mehreren Treffen wurde ein Teach-in beschlossen, das am 15. Dezember mit 700 Beteiligten stattfand. Mit der Formulierung eines Flugblattes wurde ich beauftragt. Die Situation war sehr dramatisch und noch nicht entschieden. Wir hatten das DDR-Fernsehen eingeladen. Der französische Präsident François Mitterrand hatte für den 20. Dezember einen Staatsbesuch in der DDR angekündigt. Unter dem Eindruck der Ereignisse entstand am 8. Dezember die Überschrift »Nie wieder Deutschland. Je geteilter – desto besser.« Der Nachsatz besagt, dass die Teilung eine Konsequenz der deutschen Barbarei war. Die Überschrift wurde von allen beteiligten Gruppen akzeptiert. Sie war zu diesem Zeitpunkt eine tagespolitische Losung, die durchaus noch Chancen auf Verwirklichung hatte.