John Holloway im Gespräch über den keynesianistischen Irrtum

»Dem Kapital ein ›Fuck off‹ entgegenschleudern«

Der in Dublin geborene und in Mexiko an der Benemérita Universidad Autónoma de Puebla lehrende Politikwissenschaftler John Holloway ist spätestens seit seinem Buch »Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen« (2006) als Opponent des orthodoxen Marxismus auch hierzulande bekannt geworden. Neben seiner Kritik an der verdinglichten Arbeit sieht er in Institutionen wie Parteien und Staat ein Hindernis für das Erreichen einer befreiten Gesellschaft. Derzeit schreibt er am Buch »Think Hope, Think Crisis«, in dem er sich auch mit der Situation in Griechenland beschäftigt.

Nach den Verhandlungen mit den Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone muss die griechische Syriza-Regierung einer Vereinbarung zustimmen, die deutlich schlechter ist als alles, was noch vor Wochen oder gar Monaten verhandelt wurde. Die Auflagen für Griechenland sind noch härter. Ministerpräsident Alexis Tsipras musste ein dreijähriges Programm mit strengen Auflagen für neue Kredite akzeptieren. Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble drohte damit, Griechenland aus der Euro-Zone zu drängen, und nun muss jedes Gesetz in Griechenland zunächst von den Gläubigern abgesegnet werden. Wie schätzen Sie dieses Ergebnis ein? Ist das ein Tag, an dem die Linke vorerst verloren hat?
Auf der ganzen Welt herrscht jetzt ein Gefühl der Entwertung und Enttäuschung. Es geht nicht nur um Griechenland. Überall greift das Kapital die Menschen an und zwingt uns, sämtliche Aspekte unseres Lebens der Logik des Geldes und des Profits zu unterwerfen. Überall waren die Methoden ziemlich ähnlich: Es kam zu Angriffen auf die Arbeitsbedingungen und das Bildungssystem, Privatisierungen, wachsendem Autoritarismus, zunehmender Gewalt, zu Kürzungen der Sozialausgaben und Angriffen auf alle Ansätze, die nicht nur der Logik des Profits folgen. Griechenland unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht stark von Mexiko, Irland, Großbritannien oder Deutschland. Der Angriff hat nur eine noch dramatischere Form angenommen. Kurzzeitig schien es, als könne die Syriza-Regierung diesen Angriffen Paroli bieten, etwas verändern oder zumindest sich weigern, zum Vollstrecker dieser Angriffe zu werden. Darum wurde Syriza weltweit zum Symbol der Hoffnung. Aber die griechische Regierung hatte zu wenig Handlungsspielraum. Die linken Politiker werden nun die Reformen, die sie bekämpft haben, durchsetzen müssen. Das überrascht aber nicht wirklich. Der »Grexit« wäre vielleicht eine Exit-Option vor den Angriffen des Kapitals gewesen, möglicherweise wären die Folgen jedoch brutaler. Aber vielleicht hätte das dem Oxi eine Stimme geben können. Es ist das Nein, das wichtig ist. Das ist das große Bild, das für mich bleibt. Das große Nein, das durch das Referendum zum Ausdruck gebracht wurde. Dass so viele einfach Nein zu den kapitalistischen Angriffen gesagt haben. Das Nein wird einen symbolischen Wert über die vergangenen Wochen der sogenannten Niederlage hinaus haben.
Die Regierung in Griechenland darf aus Sicht der EU nicht zum Vorbild für Portugal und Spanien werden. Ist das eine erneute Peripherisierung des europäischen Südens? Geht es nicht vor allem darum, keine mögliche Alternative zur vorherrschenden Austeritätspolitik des Neoliberalismus aufkommen zu lassen?
Das sehe ich auch so. Ich glaube jedoch nicht, dass es nur um eine Frage der Suche nach einer Alternative zur Austeritätspolitik des Neoliberalismus gehen kann. Die griechische Krise zeigt uns, dass es innerhalb des Kapitalismus keine Alternative zur neoliberalen Austeritätspolitik gibt. Es gibt keine Möglichkeit eines sanfteren, keynesianischen Kapitalismus. Das ist von der Position der europäischen Regierungen aus sehr deutlich gemacht worden. Wenn der »Grexit« erfolgt wäre, wäre es klar, dass das Problem nicht die neoliberale Politik ist, sondern die Bewegung von Geld auf den Geldmärkten im Streben nach Profit. Das Problem, dem sich jede Regierung stellen muss, lautet: »Wie können wir Kapital anziehen?« Und die Antwort heißt normalerweise: »Rentenkürzung, Erhöhung der Mehrwertsteuer, Abbau der Arbeiterrechte« und vieles mehr.
Die große Mehrheit in Deutschland trägt die harte Politik gegenüber den marginalisierten Ländern mit. Von deutscher Seite wurde ein medialer Propagandakrieg gegen Syriza und eine andere Art von Politik geführt. Für Sie waren viele der sozialen Bewegungen immer wichtige Orte zur Entfaltung von »Anti-Macht«. Sie haben die klassischen Parteien sehr kritisch beobachtet, da sie auf den Staat als regulierende Instanz vertrauen. Hat sich das mit den Erfolgen von Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien, die ja durchaus Kontakte zu sozialen Bewegungen hatten, geändert oder fühlen Sie sich nun in Ihrer parteiskeptischen Haltung bestätigt?
Man muss der Versuchung widerstehen zu sagen: »Wir haben es immer gewusst, radikaler Wandel kann nicht durch den Staat erreicht werden.« Zu behaupten, man hätte es immer gewusst, bedeutet, sich zu weigern, Lehren aus den Ereignissen zu ziehen. Das Interessante und Spannende des Syriza-Experiments war – wir können darüber wahrscheinlich schon in der Vergangenheitsform sprechen –, dass der Staat an seine Grenzen gestoßen ist. Das war erfrischend zu beobachten. Syriza ging tatsächlich viel weiter, als wir erwartet hatten, aber dennoch wurde der Kampf verloren. Wenn wir an Syriza denken, in Bezug auf die großen Kampfzyklen nach 2008, so schien sich ein realistischer Weg in die Zukunft abzuzeichnen. Aber dieser Realismus entpuppte sich als ein Trugbild. Er führte die Bewegung in eine Sackgasse. Es geht aber nicht um Fragen des Verrats. Die wirkliche Frage ist, wie können wir die bösartigen Angriffe des Kapitals auf die Menschen in der ganzen Welt zurückschlagen. Und die Folgerung, die man aus der Griechenland-Krise ziehen kann, ist schlicht, dass der einzige Weg, der den Sieg über die kapitalistischen Angriffe bringen wird, ist, dem Kapital ein »Fuck off« entgegenzuschleudern. Wie können wir das artikulieren? Nur wenn wir so leben, dass nicht das Kapital oder die Gewinnmaximierung im Mittelpunkt unserer Existenz stehen. Es gibt keinen Mittelweg und keine »weiche« Möglichkeit. Merkel und Schäuble sagen das immer wieder sehr deutlich, aber es sind letztlich die Geldmärkte, die das diktieren. Die Politiker verkünden, dass es keine Alternative zur kapitalistischen Existenzweise gibt.
Wenn sich der »kapitalistische Realismus« einmal mehr durchsetzt, was kann die Linke aus dem Beispiel Griechenland lernen? Darf man sich von vornherein nicht in eine staatsrestauratorische Rolle drängen lassen? Was wäre die Alternative, die nicht rein voluntaristisch ist?
Es besteht kein Zweifel darüber, dass das griechische Drama folgenschwere Wirkungen zeitigen wird, die schwer vorherzusehen sind. In den vergangenen Jahren gab es wohl eine Tendenz in der Linken, wie bei Syriza oder Podemos, wieder mehr Hoffnung in den Staat zu setzen. Der Staat kann jedoch nicht halten, was er verspricht. Syriza gab der Hoffnung eine Stimme, einer Hoffnung auf eine andere Welt, die im Referendum vom 5. Juli mit dem Nein ihren Höhepunkt fand. Das Nein, das zwar jetzt nicht weitergeführt hat, wird sich im kollektiven Gedächtnis halten. Wie kann man dieser Hoffnung, dieser Würde wieder eine Stimme verleihen? Das wird sicherlich die große Herausforderung sein, wenn wir von den kurzzeitigen Illusionen, die uns von Syriza und Podemos gegeben wurden, wieder absehen.
Spätestens seit der Finanzkrise 2008 wuchsen die – national unterschiedlichen, aber dennoch vergleichbaren – Zumutungen von sozialer Unsicherheit, privater Verschuldung und Prekarisierung auch in Europa. In den unterschiedlichen Artikulationen des Protests in verschiedenen Ländern ging es um eine breite Bewegung, die nicht einfach nur als Reaktion auf die Finanzkrise zu verstehen ist, sondern zugleich auch als Bewegung der Neuerfindung von Formen des Zusammenlebens. Diejenigen, die in Griechenland, Spanien oder Portugal aktiv werden, sprechen fast unisono von neuen Formen von Demokratie, von »realer« oder »echter« Demokratie.
Was uns der Fall Griechenland zeigt, ist, dass wir Diskussionen jenseits von Debatten über »echte« oder »reale« Demokratie brauchen. Es geht darum, darüber zu diskutieren, wie wir das produzieren, was wir zum Leben brauchen. Die dringende und entscheidende Frage ist, in welcher Form wir den Kapitalbesitzern gegenübertreten, wie wir sagen: Wir brauchen euch nicht, wir können ohne euch leben. Es sei denn, wir kümmern uns nur darum, wie wir Kapital anziehen, wie wir gute Voraussetzungen für die Rentabilität herstellen. Das ist letztlich eine Frage der Unterwerfung oder eben des Widerstands.
Der Konflikt mit den hegemonialen Mächten, der Austeritätspolitik, den Institutionen der EU, den Banken, wurde geführt. Vielen Linken gefiel es, wie die griechische Regierung bestritten hat, die deutsche Regierung habe das Recht, die griechische Innenpolitik zu bestimmen. Das konnte eine Steilvorlage für Linke in anderen europäischen Ländern sein. Noch nie schien es einfacher, Merkels Imperialismus bloßzustellen. Was kann man nun tun?
Griechenland zeigt uns, dass es nur eine Antwort geben kann. Die Antwort, die in ganz Europa und weltweit gelten muss, ist: Nein! Ein einfaches Nein, wir werden nicht mehr die Regeln dieser Zombies, die die Welt zerstören, akzeptieren. Aber der einzige Weg dahin, dass dieses Nein stark genug sein wird, ist die Einsicht, dass wir für unser Leben nicht vom Kapital abhängig sind.