Auf den Spuren von Jack Kerouac

Das Leben ist heilig und Boston verliert gerade

Unterwegs in Lowell, Massachusetts, auf der Suche nach Jack Kerouac und dem ­großen Warum.

Auf dem im Boden eingelassenen Grabstein steht eine leere Bierflasche, daneben liegen einige Cent-Münzen und eine Zigarette. Vom Titelblatt einer durchnässten Broschüre blickt uns das Konterfei von Allen Ginsberg an, neben einem kleinen, dafür aber vollen Seven-Crown-Whiskeyfläschchen. Auch ein Parkschein liegt auf dem Granit. Unter all den Gaben der Verehrer sind die Lebensdaten Jack Kerouacs schwierig zu lesen: geboren am 12. März 1922 in Lowell, Massachusetts. Gestorben am 21. Oktober 1969 in Florida.
Es hat wieder begonnen zu regnen. »Sollen wir ein Bier trinken gehen?« fragt Roger. »Hm«, sage ich, »vielleicht später.«
Lowell, Massachusetts. Rund 107 000 Einwohner, eine Arbeitslosenquote von acht Prozent. Im 19. Jahrhundert war Lowell eine der bedeutensten Industriestädte der USA. Das Wasser des Merrimack River leitete man in zahlreichen Kanälen durch die Stadt, um die Maschinen in den großen Textilfabriken anzutreiben. Auf vier Stockwerken produzierten unzählige Webstühle einen infernalischen Lärm und den Reichtum für die Fabrikbesitzer und Kaufleute im 30 Kilometer entfernten Boston. Ab den siebziger Jahren wurden hier die Wang-Computer gefertigt. Heute lebt die ehemalige Arbeiterstadt unter anderem von der örtlichen Universität.
Es ist jetzt ungefähr vier Minuten her, seit ich meinen roten Chevrolet-Leihwagen an der Peige Street geparkt habe, um kurz rüber in die Verwaltung des Nationalparks zu gehen, dem die alten Fabrikgebäude heute zugeordnet sind. Und in diesen vier Minuten habe ich einen Strafzettel über 15 Dollar erhalten. Lowell mag mich nicht, denke ich. Vor einer Viertelstunde erst bin ich über die Merrimack-Brücke in die Innenstadt gefahren, an diesem wolkenverhangenen Freitag im Juni. Ich bin nicht wegen der alten Fabriken gekommen. Sondern wegen Jack. Jack Kerouac, dessen Buch »On the Road« mir vor einigen Monaten wieder in die Hände fiel. Und damit die Erinnerung an jenes Gefühl der Jugend, dessen absolute Verdichtung Kerouacs Roman zu verkörpern schien: Freiheit, Sex, Rausch. »On the Road«, auf Deutsch 1968 als »Unterwegs« veröffentlicht, wurde zum Kultbuch der Sechziger. Ich, vom Geburtsdatum verspätet, habe es erst in den Siebzigern gelesen. Es handelt von der Beat-Generation der Nachkriegsjahre, ihrem Aufbegehren gegen die Konventionen, den Autofahrten von der Ost- bis an die Westküste der USA, von Beziehungen und sexuellen Abenteuern, von Alkohol, Drogen und Jazz, schließlich vom Schreiben. Kurzum: Vom Leben jenseits unseres grau empfunden Alltags zwischen der Neubausiedlung am Stadtrand und der nächsten Schulaufgabe. »On the Road«, das war Amerika und alles.
Ich treffe Roger Brunelle in dem kleinen Park an der Biegung des Ostkanals, unweit der Peige Street. 1988 hat die Stadt ihrem literarisch bedeutenden Sohn hier ein Denkmal gesetzt, große graue Steinquader, auf denen Texte aus Kerouacs Büchern eingraviert sind. Zum Beispiel der Beginn von »Unterwegs«: »Nicht lange, nachdem meine Frau und ich uns getrennt hatten, traf ich Dean zum ersten Mal. Ich hatte gerade eine schwere Krankheit überstanden, die ich nicht weiter erwähnen will, höchstens dass sie etwas mit der scheußlich deprimierenden Trennung zu tun hatte und mit meinem Gefühl, alles sei tot.«
Ich wäre nicht nach Lowell gekommen, hätte ich nicht über das Ende von Jack Kerouac gelesen. Darüber, dass er mit einer Magenblutung (»hemorrhaging esophageal varices«) in die Notfallstation eingeliefert wurde und dort starb (die »klassische Todesart des Trinkers«, wird sein Biograph Gerald Nicosia schreiben); er war erst 47 Jahre alt. Darüber, dass er sich zu Tode soff, schon vormittags vor dem Fernseher Alkohol trank, bei seiner Mutter lebte, den Vietnam-Krieg für in Ordnung hielt, Juden hasste. Zum Ende hin war er für die Nachbarschaft der besoffene Schriftsteller mit Übergewicht. Und meine Erinnerung an »Unterwegs«, an dieses Manifest der Jugend, von einem dunklen Schatten überdeckt. Über die Leichtigkeit der literarischen Bilder und des Lebens legte sich plötzlich eine Schwere, eine unerbittlich ernüchternde Bilanz, ein leises Grauen über den möglichen Gang der Dinge.
»Tja, warum hat er so viel gesoffen«, sagt Roger. Er ist ehemaliger Latein- und Französischlehrer und macht in Lowell Führungen auf den Spuren von Kerouac. Wir sind in seinem Auto unterwegs durch die Stadt, weil es aber regnet, sind die Scheiben beschlagen und ich wundere mich, wie Roger mit seinen 78 Jahren noch etwas auf der Straße erkennen kann. »Natürlich wegen dieser verdammten Frage – Warum?« regt sich Roger jetzt ein bisschen auf und wird lauter, »warum sind wir hier auf diesem verdammten Planeten«, »und warum ist das Leben so verdammt kurz?« Wir haben den Merrimack River überquert und fahren an Kerouacs alter Schule im französischen Viertel Centralville vorbei. Roger ist wie Kerouac französischsprachig aufgewachsen, dessen Eltern kamen aus dem kanadischen Quebec. Damals zählte die frankokanadische Gemeinde in Lowell an die 30 000 Menschen und bildete eine homogene Bevölkerung in einigen Stadtteilen. Wir fahren hinauf zu Kerouacs Geburtshaus und halten in der Lupine Road Nr. 9 vor dem zweistöckigen Gebäude mit Holzveranda. Ich lasse die beschlagene Seitenscheibe herunter und es regnet ein wenig herein. Roger hat von irgendwoher einen Stapel Karteikarten hervorgeholt und beginnt aus »Doctor Sax« (1959) zu zitieren, nachdem er den quietschenden Scheibenwischer abgestellt hat: »Es war in Centralville, wo ich geboren wurde … «
Wir fahren zurück in die Innenstadt, Roger will mir die Bibliothek zeigen. Dort verbrachte Kerouac seine Zeit, wenn er die Schule schwänzte, was oft geschah. Die öffentliche Bibliothek von Lowell ist ein imposantes Gebäude. Hier holte sich Kerouac die literarischen Grundlagen für sein späteres Leben als Schriftsteller, nachdem er – damals sogar lokaler Football-Star – Lowell verlassen hatte. Das Leben in Wohngemeinschaften in New York, die Autofahrten durch das Land, das rauschhafte Schreiben des Manuskriptes von »Unterwegs«, das erst nach Jahren veröffentlich wurde. Seine Entdeckung als Vertreter der Beat-Generation, neben Allen Ginsberg, die Verrisse seiner folgenden Bücher, das Scheitern seiner Beziehungen und das Leben an der Seite seiner Mutter – und der endlose Alkoholkonsum. Seine Bücher, von »The Town and the City« (1950) über »The Dharma Bums« (1958) bis »Desolation Angels« (1965). An einem der Arbeitstische in der Bibliothek treffen wir auf Jim, einen Freund von Roger, er hat mit Süchtigen gearbeitet. »Manche wissen genau, wohin es führen wird«, sagt er, »und ziehen trotzdem das Trinken vor.«
Neben dem Grab von Kerouac am Edson-Friedhof von Lowell steckt eine kleine amerikanische Flagge im Gras. Roger und ich sitzen wieder im Auto mit der immer noch beschlagenen Frontscheibe. »Lies doch mal diese eine Stelle auf Deutsch vor«, bittet mich Roger. Ich lese: »Ab und zu stand einer auf und ging einen Passanten um ein 10-Cent-Stück an. Sie sprachen von der Ernte, die mit der Jahreszeit nordwärts rücke, es war warm und mild. Ich wollte mich aufmachen und Rita wiederholen und ihr viel mehr sagen und sie diesmal wirklich lieb haben und ihre Befürchtungen über Männer beschwichtigen. Jungen und Mädchen in Amerika haben so traurige Erlebnisse zusammen. Ihre angebliche Weltklugheit verlangt es, dass sie sich sofort dem Geschlechtlichen unterwerfen, ohne entsprechende vorbereitende Unterhaltung. Nicht Geflirte, wirkliche Unterhaltung über Seelen, denn das Leben ist heilig und jeder Augenblick kostbar.« »Oh mein Gott«, sagt Roger, während die Regentropfen auf das Blechdach des Autos trommeln, »denn das Leben ist heilig und jeder Augenblick kostbar – das ist für mich der wichtigste Satz von Kerouac.«
Später werde ich an diesem Abend noch in Nicky’s Bar an der Gorham Street sitzen – Kerouac war oft dort – und ein paar Gläser gar nicht schlechten Weißweins trinken. Und danach ins Back Page am Canal Way gehen. Dort wird eine Nachwuchsband mit dem seltsamen Namen Hail Laveau spielen und die Sängerin tapfer gegen die Ignoranz des Publikums ansingen. Das starrt in den Fernseher, weil dort das Bostoner Eishockey-Team gerade am Verlieren ist. Draußen auf dem Friedhof liegt Jack Kerouac und ich nehme noch einen Schluck Bier, bevor ich ins Hotel zurückgehe.