Die Streiks von Verdi waren erfolglos

Post-Streik-Depression

Die Gewerkschaft Verdi hat beim Post- und beim Kita-Streik wenig erreicht. Das schwächt Verdi nicht nur politisch, sondern auch finanziell.

Der Vorsitzende von Verdi, Frank Bsirske, ist in diesen Wochen im Urlaub. Die von ihm auf den Weg gebrachten Versammlungen für die Beschäftigten von Kitas und anderen pädagogischen Einrichtungen finden ohne ihn statt. Vier Wochen haben sie gestreikt, damit ihre Berufsgruppen in der kommunalen Tariftabelle höher eingestuft werden und dadurch mehr Geld bekommen. Der Tarifabschluss, den Bsirske durchsetzen will, bleibt weit hinter ihren Forderungen zurück. Auf den Versammlungen sollen sie von Ge­werk­schafts­funktionären bearbeitet werden, damit sie dem Abschluss zustimmen. Viele wollen das nicht.

In der Gewerkschaft rumort es. Verdi handelt sich eine Niederlage nach der anderen ein. Die Gewerkschaftsspitze um Frank Bsirske hat offensichtlich keine Strategie, um in die Offensive zu kommen. Die niederschmetternden Ergebnisse der großen Arbeitskämpfe im Sozial- und Erziehungsdienst und bei der Post zeigen die große Orientierungslosigkeit, mit der Europas einst größte Gewerkschaft geführt wird. Denn für die Führung sind Streiks offensichtlich in erster Linie Mitgliederwerbekampagnen. Zu keinem anderen Zeitpunkt wird Arbeitnehmern besser und nachdrücklicher klar, warum eine gewerkschaftliche Organisierung sinnvoll ist. Deshalb treten im Zuge eines Ausstands etliche in die Gewerkschaft ein. Die Zahl der Verdi-Mitglieder ist von 2,81 Millionen im Jahr 2001 auf 2,04 Millionen im Jahr 2014 gesunken, allein im vergangenen Jahr verließen fast 25 000 Leute die Gewerkschaft. Der Kita-Streik hat nach Angaben aus dem Umfeld von Verdi 25 000 Neueintritte gebracht.
Der Arbeitskampf der Erzieherinnen, Sozialpädagoginnen und Sozialarbeiterinnen in kommunalen Einrichtungen ist formal noch nicht zu Ende, aber Verdi hat ihn schon verloren. Wochenlang hatten die Beschäftigten für zehn Prozent mehr Gehalt gestreikt, zwischen null und 4,5 Prozent sollen sie bekommen. Der Tarifvertrag soll über fünf Jahre laufen. Das ist das Ergebnis der Schlichtung, auf die sich die Tarifparteien geeinigt haben. Über die Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst haben die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst in den kommenden Jahren allerdings Aussicht auf Verbesserungen wie andere städtische Angestellte auch. Zentrales Ziel der derzeitigen Auseinandersetzung aber war gerade die Aufwertung der Arbeit in Kindertagesstätten und anderen pädagogischen Institutionen sowie Behinderteneinrichtungen. Damit ist es nichts geworden, räumt auch Verdi ein. »Die generelle und überfällige Aufwertung des gesamten Berufsfelds ist noch nicht erreicht und bleibt für uns weiter ein zentrales gesellschaftliches und tarifpolitisches Ziel«, heißt es in einer Erklärung der Vertreter von Verdi in der Schlichtungskommission. Für sie ist die Schlichterempfehlung aber ein Schritt in die richtige Richtung.
Das sahen die mehr als 300 Verdi-Mitglieder der Streikdelegiertenkonferenz ganz anders. Bei der Streikkonferenz in Frankfurt segneten sie nicht wie erwünscht den Schlichterspruch zum Kita-Tarifstreit ab. Das ist ungewöhnlich, denn normalerweise fügen sich Gewerkschaftsmitglieder ihrer Führung. Umgekehrt gilt das nicht. Statt den Streik wieder aufzunehmen, setzte Bsirske die Mitgliederbefragung durch. »Wer sollte besser über die Schlichtungsempfehlung und einen darauf basierenden Verhandlungsstand entscheiden können als die betroffenen Verdi-Mitglieder in den Einrichtungen und Betrieben des Sozial- und Erziehungsdienstes?« sagte Bsirske nach der Streikkonferenz. Das ist scheinheilig. Die Mitgliederbefragung dient einzig und allein dem Zweck, die Linie der Gewerkschaftsspitze durchzusetzen. Denn für den Fall, dass das ­Ergebnis angenommen worden wäre, war sie nicht geplant.

Die Befragung soll vier Wochen dauern. Gestreikt wird in dieser Zeit nicht mehr. Eine Mitglieder­befragung wie die jetzige ist in Arbeitskämpfen nicht vorgesehen. Üblicherweise finden Urabstimmungen statt, mit denen Streiks beschlossen und Tarifergebnisse angenommen oder abgelehnt werden. Die kann es nun nicht geben, weil es keine Ergebnisse gibt – die Streikdelegiertenkonferenz wollte den Schlichterspruch ja nicht annehmen. Die Mitgliederbefragung hat für die Gewerkschaftsspitze den Vorteil, dass ihr Ergebnis sich recht frei interpretieren lässt. Ein Problem dürfte sie nur bekommen, wenn mehr als 75 Prozent der Verdi-Mitglieder im Sozial- und ­Erziehungsdienst weiter streiken wollen, denn das ist das Quorum bei einer Urabstimmung für einen Streik. Aber dass das geschieht, ist sehr unwahrscheinlich. Die Gewerkschaftsführung kann in der Sommerpause ganz in Ruhe die Luft aus dem Streik lassen. Erst am 13. August werden die Tarifparteien wieder verhandeln.
Unter taktischen Gesichtspunkten ist es nachvollziehbar, dass Verdi erst in die Schlichtung ging und dann das schlechte Ergebnis akzeptierte. Die Gewerkschaftsführung hatte die Lage vor dem Streik offenbar völlig falsch eingeschätzt. Die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) auf der anderen Seite des Verhandlungstisches war während des Streiks in einer ausgesprochen komfortablen Lage. Es geschieht nicht oft, dass Arbeitgeber an einem Ausstand verdienen. Aber genau das ist geschehen, denn die Eltern entrichteten die Kita-Gebühren während des Streiks, die Städte und Gemeinden mussten aber keine Gehälter zahlen. Die Arbeitgeber hätten den Streik ohne Not und zur Freude der Kämmerer noch lange ausgehalten. Denn anders als Verdi offenbar erwartet hatte, stürmten die Eltern die Rathäuser nicht. Deshalb entstand zu keinem Zeitpunkt allzu großer Druck auf die Arbeitgeber. Das hätten die Strategen von Verdi wenigstens durchdenken und einen Plan B entwickeln müssen.

Ganz anders ist die Lage bei der Post: Millionen liegengelassener Briefe und Päckchen stellten den Arbeitgeber vor ganz erhebliche Probleme. Doch auch dieser Streik endete mit einem niederschmetternden Ergebnis. Verdi hat die Hauptforderung nicht durchgesetzt, die Weichenstellung für die gesamte Paketbranche ist fatal. Die Gewerkschaft wollte die Spaltung der Belegschaft in Billigkräfte und Haustarifbeschäftigte verhindern und ist damit komplett gescheitert. Die Post hatte zu Beginn des Jahres 49 Regionalgesellschaften eingerichtet, deren Mitarbeiter schlechter bezahlt werden als die knapp 140 000 direkt im Stammunternehmen Beschäftigten. Daran wird sich auch nach dem Streik nichts ändern.
Die Paketbranche boomt aufgrund des wachsenden Onlinehandels. Die Post ist unangefochtene Marktführerin und will den Gewinn stark steigern. Das sind ideale Voraussetzungen für Tarifverhandlungen und ein gutes Ergebnis. Aber Verdi hat nicht nur die Schließung der Regionalgesellschaften nicht durchgesetzt, sondern auch miserable Lohnerhöhungen hingenommen. Die Beschäftigten bekommen in diesem Jahr eine Einmalzahlung von 400 Euro, Lohnerhöhungen von zwei Prozent zum 1. Oktober 2016 und wei­tere 1,7 Prozent zum 1. Oktober 2017. Gefordert hatte Verdi 5,5 Prozent mehr Lohn. Die Lohnerhöhungen 2016 und 2017 werden möglicherweise nicht einmal die Inflation ausgleichen.
Immerhin gibt es einen Kündigungsschutz bis 2019. Befristet Beschäftigte, die zum Stichtag 1. Juli 2015 länger als 24 Monate bei der Post arbeiten, erhalten »bei Eignung« einen unbefristeten Vertrag. »Wir sind mit dem Abschluss sehr zufrieden«, erklärte die stellvertretende Verdi-Vorsitzende und Verhandlungsführerin Andrea Kocsis allen Ernstes. »Er trägt der Erwartung der Beschäftigten nach Sicherheit in hohem Maße Rechnung.« Eine Mitgliederbefragung zum Ergebnis ist nicht vorgesehen. Auch eine Urabstimmung gibt es nicht. Die muss Verdi praktischerweise nicht durchführen, weil die Gewerkschaft den Streik auch nicht mit einer Urabstimmung beschlossen hat.
Die Post wird für die 49 Regionalgesellschaften neue Mitarbeiter einstellen und keine der bislang befristet Beschäftigten aus dem Tarifunternehmen versetzen. Für die Gesellschaften gelten die Tarifverträge der Logistikbranche, die regional ausgehandelt werden – mit der Folge, dass es nicht möglich sein wird, für die Regionalgesellschaften einen gemeinsamen Arbeitskampf zu organisieren. Niemals wird ein Streik bei der Post wieder so effektiv sein können wie der gerade zu Ende gegangene. »Ein kleiner Trost bleibt Verdi immerhin: Auch bei ihr kommt künftig wieder die Post an«, spottete die Hessische/Niedersächsische Allgemeine.

Durch die schlechten Ergebnisse schwächen die beiden Streiks Verdi politisch sehr. Finanziell auch, denn sie waren sehr teuer. Nach Schätzungen des Tarifexperten des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Hagen Lesch, haben beide Streiks Verdi mehr als 42 Millionen Euro gekostet, das ist seinen Berechnungen zufolge mehr, als im vergangenen Jahr in den Streikfonds geflossen ist. Acht Prozent der Mitgliedsbeiträge steckt Verdi jedes Jahr in den Streikfonds, das wären 2014 rund 35 Millionen Euro. Hinzu kommen allerdings weitere Einnahmen etwa aus Immobilien und Kapitalerträgen. Möglicherweise wollte sich die Verdi-Führung einfach keine längeren Streiks leisten. Zu ihrer Streikkasse macht die Gewerkschaft keine offiziellen Angaben. Sonst könnten Arbeitgeber ausrechnen, wie lange sie sich einen Ausstand leisten kann.
Die Aussichten für Verdi werden nicht besser, auch wenn Bsirske und Kocsis beim Gewerkschaftstag Ende September in Leipzig sicher etwas anderes behaupten werden. Wenn das Tarifeinheitsgesetz wirksam wird, wird sich die organisatorische Schwäche von Verdi in vielen Bereichen zeigen. Das gerade in Kraft getretene Gesetz sieht vor, dass für Betriebe nur noch ein Tarifvertrag ausgehandelt werden darf. Gibt es mehrere Gewerkschaften und können sich deren Funktionäre nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen, wird nur noch die Organisation verhandeln und zum Streik aufrufen dürfen, die die meisten Mitglieder in dem Betrieb hat. Das könnte bitter werden für Verdi. Denn ob bei der Deutschen Bank, im Sicherheitsgewerbe oder in den Zeitungsredaktionen – in vielen Betrieben gibt es Konkurrenzorganisationen, etliche sind stärker als die jeweilige Verdi-Einheit. Doch Bsirske bestreitet das. »Ich kann nicht erkennen, wo wir in unserem Organisationsbereich Minderheitsgewerkschaft wären«, sagte Bsirske in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung.
Die Ärztegewerkschaft Marburger Bund, der Deutsche Journalistenverband, die Pilotenvereinigung Cockpit und andere Organisationen haben Verfassungsklage gegen das Tarifeinheitsgesetz eingereicht. Auch Verdi hat das angekündigt. Während die anderen Gewerkschaften ihre Klagen längst eingereicht haben, prüft Verdi die Sache noch juristisch.