Der »Zug der Liebe« in Berlin

Tanz die Beklommenheit

Die Love Parade in Duisburg endete in der Katastrophe. Fünf Jahre später ist die Veranstaltung unter neuem Namen zurück.

Nichts durfte schiefgehen beim »Zug der Liebe« am vergangenen Samstag. Dieser Vorsatz des Veranstalters Jens Schwan prägte die Atmosphäre, als sich die Menschenmassen am Petersburger Platz in Berlin-Friedrichshain in Bewegung setzten. Schwan wollte ungute Erinnerungen an die Love Parade in Duisburg 2010, bei der 21 Menschen starben, möglicht ausschließen. Deshalb übernahm er für seine Veranstaltung nicht den bekannten Namen, sondern gab ihr einen Titel, der auch zu einem der Kitsch-Romane Rosamunde Pilchers gepasst hätte.
Um die Sicherheit an keiner Stelle zu gefährden, ließ Schwan erst gar keine Tanzenden auf die Wagen. Und so waren auf den insgesamt 15 LKW, die etwa von Straßenkinder e.V. oder Terre des Femmes bespielt wurden, ausschließlich DJs zu sehen. Um nicht zu viel Stimmung aufkommen zu lassen, unterblieb jeglicher Getränkeverkauf. Und weil jeder Kommerz-Vorwurf bereits im Vorfeld im Keim erstickt werden sollte, erteilte Schwan Absagen an alle ­Interessenten für Werbung und Sponsoring.
Der größte Coup bestand allerdings darin, dass die Musik mitten im hochsommerlichen Berlin lediglich die zweite Geige spielen sollte. Für Schwan bedeutete sie nicht mehr als ein Mittel zum Zweck, Menschen zu anderen Vorhaben anzuregen als bloß zum Tanzen. Den Feiernden sollte stattdessen das nahegebracht werden, was Schwan »Substanz« nennt: Themen, Inhalte. Auf gut sichtbaren Transparenten war zu lesen, wofür die Teilnehmer des Umzugs eintreten konnten: für Toleranz, Mitgefühl, Nächstenliebe und Kulturförderung. Und natürlich auch, wogegen sie sich wenden konnten: Rassismus, Diskriminierung von Homosexuellen, Verfolgung von Migrantinnen und Migranten, Rassismus, Gentrifizierung, GEMA und GEZ. Es handelte sich bei dieser Veranstaltung offenbar um eine Themen-Parade. Gemächlich ließ sich zwischen den Wagen hin und her wandern, um sich zu überlegen, welchem Anliegen man sich verbunden fühlen wollte.
Schwan war das alles noch nicht genug. Beim nächsten Mal, sagt er, müsse es noch »politischer und meinungslastiger« werden. Der Erfolg lässt sich nicht übersehen. Es ist ihm gelungen, eine aufregend freakige, so gutgelaunte wie großmäulige Parade stellenweise in einen Zug der Beklommenheit zu verwandeln.
Dabei ging es ihm nicht darum, der Love Parade eine Harke zu zeigen. Schwan ist ein Veteran und Fan der frühen Love Parades, die er als jugendlicher Hausbesetzer erlebte. Eher erinnern seine Bemühungen, die in dem Zug der Liebe zum Ausdruck kamen, an die Vorgehensweisen gewisser Bands aus der DDR. So mancher Musiker setzte damals beim Verfassen der Texte die berüchtigte Schere im Kopf ein, um der Zensur zu entgehen. In dieser Hinsicht erinnerte der Zug der Liebe zwar nicht musikalisch, aber mit seiner Atmosphäre und Haltung an eine Love Parade, wie sie Karat und die Puhdys nicht besser hinbekommen hätten.
Was Schwan aber vor allem fürchtet, ist weniger die Möglichkeit einer erneuten Gefahr für Leib und Leben als das, was die Love Parade vor der Katastrophe ausmachte. Eine kurze Erinnerung: Wer damals an der Love Parade teilnahm, erlebte ein Woodstock ohne Bands – die wurden schließlich nicht mehr gebraucht. Denn jeder und jede war jetzt selbst eine Band geworden, war Schlagzeuger, Bassist, Gitarrist und Sänger in einer Person. Und jeder zeigte, in wie viele er sich während einer Parade verwandeln konnte, in Zuschauer und Akteur, in Publikum und Künstler – oder gleich in eine ganze Reihe von Künstlern, bis aus einem dann sehr viele geworden waren. Wie viele, davon hat der Berliner Blixa Bargeld gesungen: »Ich bin das ganze chinesische Volk.«
Die Feiernden brauchten niemanden, der ­ihnen sagte, was die Love Parade war, was sie bedeutete und was sie zu tun oder zu lassen hatte. Es zeigte sich eine Bewegung, die ohne Erziehungsberechtigten auskam. Sie brauchte kein Konzept, kein Programm, niemand musste ein Manifest schreiben. Im Gegenteil, Dr. Motte persiflierte mit seinen Reden sämtliche Manifeste, Programme und Konzepte. Sie brauchten das Kroppzeug einfach nicht. Sie verfügten schließlich über ein fröhliches, locker dionysisches Selbstbewusstsein.
Das haben nicht alle verknusen können. Vor allem nicht solche, die gar nicht wussten, was genau gegen die Love Parade einzuwenden war und sich trotzdem danach sehnten, sie mit ihrer Kritik zu erschüttern. Diese Sehnsüchtigen sind hinlänglich bekannt, sie melden sich bis heute in vielen Diskussionen zu Wort. Gern warten sie, bis die richtige Zeit für ihren Einsatz gekommen ist, um sich dann umso souveräner einzumischen. Auch sie haben zwar kein Argument gegen die Love Parade gefunden, aber dafür haben sie die Kraft eines bestimmten, angeblich sachdienlichen Hinweises entdeckt, mit dem sie in allen Auseinandersetzungen wenigstens für einen Moment glänzen.
Es ist der Hinweis darauf, wie die Geschichte, die gerade erzählt wird, am Schluss ausgeht: Traurig, tragisch, schlecht und böse. In Gesprächen mit ihnen hat man einen schweren Stand, weil sie geübt sind, eine Unterhaltung mit nur einem Wort zu beenden beziehungsweise jede Fortsetzung wie eine Unverschämtheit aussehen zu lassen. Jemand mag sich zum Beispiel für die Französische Revolution begeistern und bekommt mit »Schreckensherrschaft« das Wort abgeschnitten. Er denkt laut über die Oktoberrevolution nach und wird mit »Säuberungen« oder »Gulag« zum Schweigen gebracht. Er sagt etwas zu Rockmusik und wird auf »The Osbournes« verwiesen, die Reality-TV-Serie über den Black-Sabbath-Sänger Ozzy Osbourne und dessen Familie. Schließlich staunt er mal über die vielen interessanten Ereignisse des Jahres 1968, bis jemand »Rainer Langhans« sagt. Solche Hinweise können genau das Selbstbewusstsein kosten, sich auch nur einen Augenblick länger mit einem Thema zu beschäftigen. Wer es doch tut, muss damit rechnen, das Objekt von Gewaltphantasien zu werden.
Jens Schwan weiß, dass es sich mit ihm und dem Zug der Liebe ähnlich verhält. Seit fünf Jahren läuft jeder, der es noch wagt, etwas ausdrücklich Gutes an der Love Parade zu finden, Gefahr, sich das Wort »Duisburg« wie eine erzieherische Maßnahme anhören zu müssen. Ganz zu schweigen von jemandem, der es sich, wie Schwan, in den Kopf gesetzt und über ein halbes Jahr daran gearbeitet hat, ein Fest mit gewissen Ähnlichkeiten auf die Beine zu stellen. Vielleicht wird es nächstes Mal weniger befangen.