Das Pferd im Sumpf

»Und nutzt die Zeit, um den Stoff zu wiederholen!« Das waren die Worte, mit denen unsere Schulleiterin die entgeistert blickenden Schülerinnen und Schüler vorvergangene Woche in die großen Ferien entließ. Haben Sie früher viel wiederholt? Oder seitdem? Zum Beispiel, wie noch mal die Division mit Brüchen ging, oder Photosynthese, oder wer gegen wen gekämpft hat im Dreißigjährigen Krieg? In der Lehrerausbildung haben wir gelernt, dass Wiederholung jetzt »Umwälzung von Wissen« heißt und sehr wichtig ist für den Lernprozess, aus irgendwelchen neurologischen Gründen, die ich mir nicht merken konnte. Denn der Mensch, der vom Staat beauftragt wurde, mir die entsprechenden Zusammenhänge näherzubringen, hatte ein so schauerschönes Bild dafür gefunden hat, dass die zugrundeliegende Theorie daneben verblasste, wie, sagen wir, der Schäuble in einem Hollywood-Streifen verblassen würde, wenn er zum Beispiel einen englischen Admiral spielen müsste und Varoufakis würde den wilden Piraten geben, oder, schlimmer noch, andersherum, ganz aussichtslos wäre das. Jedenfalls sah sie blass aus, die Neurologie, und umgewälzt habe ich sie dann wohl auch nicht mehr, aber an den restlichen Vortrag des Dozenten kann ich mich noch gut erinnern. Das neue Wissen, sagte er, sinke in unser Bewusstsein wie in einen tiefen Sumpf, so dass nach einiger Zeit nur noch eine gründliche Umwälzung durch einen Bagger verhindern könne, dass es für immer unzugänglich in den Tiefen des Unbewussten versinke.
Ein Bagger! Ein Bagger, der dafür sorgt, dass die Photosynthese schön gleichmäßig aufs ganze Bewusstsein verteilt wird, vermutlich ordentlich durchmengt mit dem Dreißigjährigen Krieg und der Bruchrechnung – das würde zumindest einige der interessanteren Schülerlösungen des vorigen Jahres erklären. In einem Pferdebuch, das mich als Kind sehr beeindruckt hat, versank das für die Handlung zentrale Pferd in einer dramatischen Wendung vor den schreckensgeweiteten Augen des ihm in treuer Freundschaft ergebenen Kindes im Sumpf und war dann tot. Das Versinken des Pferdes war dabei als quälend langsamer Prozess beschrieben, nächtelang habe ich als Kind von diesem allmählich im Sumpf versinkenden Pferd geträumt. Und jetzt das! Wozu lernen wir? Damit wir hilflos am Rand unseres Bewusstseinssumpfes stehen, in dem unser neues Wissen versinkt wie ein krankes Pferd, während wir händeringend um Hilfe flehen oder wenigstens um einen Bagger? Das kann doch nicht richtig sein! Ich jedenfalls habe beschlossen, da nicht mehr mitzumachen, ich lerne einfach nichts Neues mehr, ich wälze nur noch um: Kaiser und katholische Liga gegen Protestantische Union, mit dem Kehrwert malnehmen und irgendwas mit Lichtenergie. Geht ganz gut und strengt überhaupt nicht an, sollten Sie auch mal probieren.