Über den Zustand des organisierten Antifaschismus

Die feindliche Übernahme der Antifa

Wieder brennen Asylbewerberheime, wieder demonstrieren tausende Rassisten in den Städten, wieder versammelt sich der deutsche Mob, wieder wird das Asylrecht verschärft. Die Parallelen zu den frühen neunziger Jahren sind augenscheinlich. Und was macht die Antifa? Marx lesen und die Europäische Zentralbank blockieren.

Die Geschichte des organisierten Antifaschismus in der Bundesrepublik war von Beginn an geprägt von einem gespannten Verhältnis zwischen verschiedenen Politikansätzen. Es ging dabei oft um die Gewichtung von Theorie und Praxis, um Fragen von Militanz, Geschlechterverhältnissen und Bündnisfähigkeit. Eine große Schwierigkeit aber stellte immer wieder das Finden einer Balance zwischen antifaschistischem Kerngeschäft und dem Kampf ums Ganze dar, und so scheinen auch heute viele Antifa-Gruppen Schwierigkeiten damit zu haben, zu entscheiden, welchem der vielen sich bietenden Problemfelder sie sich nun am dringlichsten annehmen sollten. Einige Gruppen, vor allem solche mit einer traditionellen Nähe zur kurdistansolidarischen Bewegung, zum Teil aber auch antideutsche Gruppen, befassen sich derzeit intensiv mit dem kurdischen Widerstand gegen den »Islamischen Staat« in Rojava und anderswo. Andere engagieren sich ganz konkret an ihrem Wohnort in Initiativen zur Unterstützung von Geflüchteten, die angesichts des Versagens des deutschen Staates bei ihrer menschenwürdigen Unterbringung und Versorgung wahrlich jede Hilfe gebrauchen können. Wieder andere Gruppen – am sichtbarsten wohl die Interventionistische Linke (IL) und das kommunistische Bündnis »Ums Ganze« – nutzen die griechische Schuldenkrise und das deutsche Streben nach Hegemonie in Europa, um mehr oder minder offen die Systemfrage zu stellen. All diese Gruppen haben ihre Wurzeln im organisierten Antifaschismus. Gerade bei »Ums Ganze« tragen ihn auch heute noch etliche Gruppen zumindest im Namen. Ihr Fokus liegt jedoch schon länger anderswo, nämlich in der praktischen Kritik am herrschenden Kapitalismus. Die eigentliche Kernaufgabe der Antifa, der Kampf gegen Nazis und Faschismus, ist dabei immer mehr ins Hintertreffen geraten.
Mit Blick auf die Geschichte der Antifa ist das durchaus nachvollziehbar. Noch bis weit in die neunziger Jahre hinein war die Antifa in ihrem Kampf gegen organisierte Neonazis meist auf sich allein gestellt und konnte vom Staat eher Repression als Hilfe erwarten. Doch spätestens als im Sommer 2000 der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder den »Aufstand der Anständigen« ausrief und den Kampf gegen Nazis quasi zur Bürgerpflicht erklärte, begann sich das zu ändern.

Verstärkt wurde diese Tendenz in den Folgejahren durch die Etablierung des bündnisorientierten Blockadekonzepts gegen Naziaufmärsche. Plötzlich fanden sich autonome Antifaschisten zwischen bauchlinken Grünenwählern, globalisierungskritischen Gipfelstürmern und Wolfgang Thierse wieder, und ihnen war verständlicherweise nicht selten unwohl dabei. Bei nicht wenigen entstand das Gefühl, dass die Bürgerlichen das mit den Nazis doch eigentlich auch ganz gut ohne sie hinkriegen würden, und sie begannen, sich anderen Themen zuzuwenden, der heraufziehenden Euro-Krise und dem europäischen Grenzregime. Ihren Höhepunkt fand diese Entwicklung 2014, als sich mit der Antifaschistischen Linken Berlin (ALB) und der Antifaschistischen Revolutionären Linken Berlin (ARAB) gleich zwei der prominentesten Antifa-Gruppen der Republik auflösten beziehungsweise in an­deren Großgruppen aufgingen, die das Label »Antifa« explizit nicht im Namen trugen (Jungle World 42/2014).
Etwa zur gleichen Zeit jedoch begannen die rassistischen und fremdenfeindlichen Ausschreitungen in einem Maße zuzunehmen, dass bei vielen Erinnerungen an die frühen neunziger Jahren wach wurden. Tatsächlich ähneln die Bilder aus Marzahn-Hellersdorf, Freital und anderen Orten in frappierender Weise jenen von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda, und auch die Reaktion der Bundespolitik, die erneute Verschärfung des Asylrechts, wirkt wie ein Wiedergänger der faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl Ende 1992.
Der Antifa jedoch, die ihren Blick vielfach auf Griechenland oder Kurdistan gerichtet hatte, gelang es nur selten, passend zu antworten. So wirkten, als im Oktober 2014 Tausende gewaltbereite Nazis und rechte Hooligans unter dem Label »Hooligans gegen Salafisten« (Hogesa) in Köln randalierten, die Antifaschisten vor Ort vielfach ähnlich rat- und hilflos wie die Einsatzkräfte der Polizei. Auch gegen die rassistischen Demons­trationen von Pegida in Dresden, die im Dezember 2014 mit fast 20 000 Teilnehmern ihren Höhepunkt fanden, konnten sie nicht einmal im Ansatz etwas ausrichten. Gerade dort, wo das Blockadekonzept wenige Jahre zuvor seine größten Erfolge gefeiert hatte, war die Antifa nun genauso ratlos wie die sogenannte Zivilgesellschaft angesichts der schieren Massen, die dort gegen ­alles vermeintlich Fremde und für eine homogene Volksgemeinschaft auf die Straße gingen.
Während es Woche für Woche Brandanschläge auf Unterkünfte für Asylbewerber oder von Migranten bewohnte Häuser gibt und es purer Zufall ist, dass es bei diesen bislang, anders als in den neunziger Jahren in Solingen, Mölln, Lübeck, Saarlouis und anderswo, noch keine Toten gegeben hat, schafft es die Antifa gerade einmal, 600 Leute zu einer Demonstration nach Freital zu mobilisieren – im Vergleich zu »Blockupy« und den alljährlichen Kreuzberger Maifestspielen eine nahezu lächerliche Zahl. Es wirkt ein wenig so, als hätten weite Teile der Antifa vor lauter Antikapitalismus aus den Augen verloren, dass Nazis und andere hier und jetzt eine sehr konkrete Bedrohung sind – wenn auch eher für Geflüchtete und Migranten als für weiße Studierende mit schwarzen Kapuzenpullovern. Sich genau dieser Bedrohung entgegenzustellen, sollte eigentlich dringlichste Aufgabe der Antifa sein. Das Bewusstsein hierfür scheint im Osten vielerorts stärker zu sein als im Westen, wohl auch weil hier handfeste Auseinandersetzungen mit Neonazis noch immer oft zum Alltag gehören. Gerade an Orten wie Bitterfeld und Burg in Sachsen-Anhalt, in denen es in den vergangenen Monaten und Jahren immer wieder gehäuft zu Angriffen auf Linke gekommen ist, ist Antifaschismus als Selbstschutz eine traurige Notwendigkeit. Auch was Proteste gegen die Unterbringung von Asylsuchenden angeht, ist der Osten neben Bayern und Nordrhein-Westfalen räumlicher Schwerpunkt rechter und rassistischer Aktivitäten. Dass sich in der Öffentlichkeit zumindest teilweise die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass meist nicht von Abstiegs­angst getriebene »Wendeverlierer« und »besorgte Bürger« solche Proteste spontan initiieren, sondern diese oft von organisierten Neonazis angeheizt, wenn nicht sogar geplant werden, ist in erster Linie der Arbeit örtlicher Antifaschisten zu verdanken.

Die Proteste, die häufig unter dem Motto »Nein zum Heim« stehen, sind derzeit das zentrale Agitations- und Aktionsfeld der deutschen Neo­naziszene. Auch hier liegt eine Parallele zu den frühen neunziger Jahren. Bislang können die der Szene am nächsten stehenden Parteien die vor Ort erzielten Erfolge zwar nicht bei Wahlen wiederholen, wohl vor allem weil viele sich dann doch lieber für die sich harmloser gerierende AfD entscheiden. Das dürfte für die Nazis, die ja ohnehin nicht an die parlamentarische Demokratie glauben, aber auch unerheblich sein. Für sie ist jeder Asylsuchende, der von sich aus Deutschland verlässt, weil er inmitten von Menschen, die ihm den Tod wünschen, keine Zukunft sieht, ein viel wichtigerer Erfolg als Wählerstimmen und Mandate. Wer so etwas hinnimmt, braucht vom Kapitalismus oder vom Kampf »ums Ganze« gar nicht erst zu reden. Es bringt schlicht gar nichts, wenn man, wie kürzlich die Göttinger Ortsgruppe der Linksparteijugend Solid, über Antifa als »Klassenkampf« schwadroniert, während zwei Orte weiter Neonazis den von ihnen proklamierten »Rassenkampf« in sehr handfester und potentiell tödlicher Weise in die Tat umsetzen. Antifa bedeutet noch immer in erster Linie Antifaschismus. Selbstverständlich heißt das, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse angegangen werden müssen, die Nazis und Rassisten hervorbringen. Es bedeutet aber auch, sich konkret mit den realen Nazis auseinanderzusetzen.
Denn spätestens seit den Enthüllungen um den NSU wissen wir: Sonst wird das niemand tun.