Die Situation der Flüchtlinge in Calais und die Reaktion der britischen Regierung

Höhere Zäune gegen die Schwärme

Großbritanniens Antwort auf die sogenannte Flüchtlingskrise von Calais.

Was in Kontinentaleuropa passiert, ist der britischen Regierung mehr oder weniger egal, solange es Großbritannien nicht direkt betrifft. In diesem Sommer kommen zwei Dinge zusammen, deren Auswirkungen auf die Insel nun von der Regierung nicht mehr ignoriert werden können. Die französischen Grenzpolizisten halten aus britischer Sicht Immigranten nicht effektiv genug von den britischen Grenzen fern und stören damit ganz erheblich den Frieden auf der Insel und den wohlverdienten Urlaub britischer Familien. Der Beginn der Schulferien ist üblicherweise von Staus auf Autobahnen begleitet, da viele Familien mit dem Auto in den Urlaub aufbrechen. Das ist auch in Großbritannien nicht anders, allerdings sind in diesem Sommer die Verhältnisse schwieriger als sonst. Durch die Sperrung der Autobahn M20, die durch die Region Kent im Südosten bis nach Folkestone und Dover an der Küste führt, kommt es sowohl für LKW- als auch für Autofahrer zu langen Staus.
Die Sperrung der M20 ist das Resultat der sogenannten Operation Stack, einer Maßnahme, die bei Störungen des Verkehrs durch den Eurotunnel oder über den Seeweg – über den Ärmelkanal – getroffen wird. Seit 2007 trat die Operation Stack bereits 74 Mal in Kraft, und die Gründe für die Schließung der M20 sind vielfältig. Vom 29. Juni bis 3. Juli wurde eine Sperrung beispielsweise durch einen Streik der französischen Mitarbeiter von My Ferry Link verursacht. Diesmal ist die Verkehrsstörung verursacht durch Menschen, die durch den Eurotunnel nach Großbritannien gelangen wollen. Eine Gruppe von 150 Flüchtlingen, die in Calais untergebracht waren, versuchte am 4. Juli die Zäune am Eurotunnel zu durchbrechen und auf LKW oder den Zügen als blinde Passagiere nach Großbritannien einzureisen. Der Versuch der Flüchtlinge am 4. Juli, blieb kein Einzelfall, sondern ist zu einem täglichen Vorkommen geworden, das als »Flüchtlingskrise von Calais« europaweite Aufmerksamkeit bekommt.
Die Situation in der Hafenstadt im Norden Frankreichs muss sowohl im Zusammenhang mit der globalen Flüchtlingskrise als auch mit den Asylprozessen in Europa gesehen werden. Vielfach wird berichtet, dass Flüchtlinge aus Nordafrika und dem Nahen Osten ihr Leben riskieren, um – oft auf dem Seeweg und für viel Geld – nach Europa zu gelangen und dort Asyl zu beantragen. Circa ein bis zwei Prozent derjenigen, die auf diese Weise jährlich in Italien und Griechenland landen, wollen nach Großbritannien weiterreisen und kommen meist bis Calais, wo sie in Slums und Camps leben, die als »Dschungel« bezeichnet und von der Stadt toleriert werden. Ohne Aussicht, legal nach Großbritannien zu gelangen, riskieren einige die lebensgefährliche Mitfahrt auf LKW oder Zügen durch den Eurotunnel, dessen Eingang sich unweit von Calais befindet. Auf der britischen Seite wurden bereits zwei Tote gefunden, die von LKW überrollt worden waren. Die in Calais gestrandeten Migranten sehen aber oft keinen anderen Ausweg aus den Lagern in Frankreich und einem Leben unter unmenschlichen Bedingungen. Diejenigen, die sich letztlich für einen Asylantrag in Frankreich entscheiden, müssen während der Wartezeit ohne finanzielle Unterstützung auskommen. Calais bietet mit dem Jules-Ferry-Tageszentrum lediglich eine warme Mahlzeit pro Tag und Beratung sowie Unterkunft für etwa 50 Frauen und Kinder.

Während die Medien nun von einer Krise sprechen, besteht die Situation im Prinzip schon seit Jahren. Während vereinzelte Überfahrtversuche den intereuropäischen Verkehr nicht wesentlich beeinträchtigten, ist dies jetzt anders. Nach der Stürmung des Tunnels Anfang Juli rief das Unternehmen Eurotunnel die französischen und britischen Behörden zu sofortigen Maßnahmen auf, um den Verkehrsfluss wiederherzustellen. Zunächst bestand Uneinigkeit darüber, wer für die Situation verantwortlich sei. Von britischer Seite wird der laxe Umgang mit Sicherheitsmaßnahmen auf der französischen Seite kritisiert, während die Behörden in Calais beanstanden, dass Großbritannien für Migranten zu attraktiv sei. Phillipe Mignonet, der stellvertretende Bürgermeister von Calais, sagte: »Wir wissen, dass es in England beispielsweise keine Personalausweise oder Personenkontrollen oder Kontrollen in Unternehmen gibt, um gegen illegale Arbeiter zu kämpfen. Das wäre ein erster Schritt. Sobald Leute wissen, dass sie in England nicht einfach auf dem Schwarzmarkt arbeiten können, werden sie ihre Meinung ändern.«
Im Laufe des Monats spitzte sich die Situation so weit zu, dass die britische Innenministerin Theresa May ein Komitee einberief, das sich mit der Sache zu befassen hat. May sagte zu, dass ungefähr 1,2 Millionen Pfund für weitere Zäune am französischen Eingang des Eurotunnels in Coquelles bereitgestellt werden. Die Zaunmaterialien werden vom Nato-Gipfel in Newport im vergangenen Jahr wiederverwendet. Bis Ende Juli sollte der Zaun stehen. Vorher hatte May bereits bekanntgegeben, dass eine neue Sicherheitszone für LKW mit Ziel Großbritannien in Calais eingerichtet werde.
Im weiteren Verlauf der Krise wurde allerdings klar, dass Premierminister David Cameron sich selbst um die Sache kümmern und den Briten versichern muss, dass er das Problem im Griff hat. Auf einer Pressekonferenz in Singapur äußerte er sich auch zu der Situation in Calais und den Plänen der britischen Regierung. Die Regierung wird jetzt, zusätzlich zu den bereits vorgesehenen, weitere Zäune und Spürhunde bereit stellen. Cameron sprach davon, dass »Schwärme von Leuten über das Mittelmeer kommen, um in Großbritannien ein besseres Leben zu suchen, denn Großbritannien hat Jobs, es ist eine wachsende Wirtschaft und ein toller Ort zum Leben. Aber wir müssen unsere Grenzen schützen, indem wir mit unseren Nachbarn, den Franzosen, eng zusammenarbeiten, und das ist genau das, was wir machen.«

Camerons Ausdrucksweise wurde sowohl vom Refugee Council als auch von der Labour-Partei kritisiert. Während der Refugee Council auf die menschenverachtende Wortwahl Camerons hinwies, betonte die Labour-Vorsitzende Harriet Harman darüber hinaus, dass die Tory-Strategie zum Umgang mit den Flüchtlingen völlig falsch sei. Sie betonte, dass die britische Regierung diplomatischen Druck auf die französische Regierung ausüben solle, damit diese die Asylanträge vereinfacht und den Flüchtlingen Unterstützung anbietet. Cameron dagegen kündigte die Inhaftierung und Abschiebung der durch den Eurotunnel gereisten Migranten an. Dies wurde allerdings von einem englischen Gericht für illegal befunden, so dass die bisher inhaftierten Eurotunnel-Reisenden wieder freigelassen werden mussten.
Camerons Vorgehen ist das, was in der englischen Sprache als short-termism bezeichnet wird, ein Vorgehen, das von kurzfristigen Maßnahmen geprägt ist und sich nicht um eine langfristige Problemlösung bemüht. Für die Regierung liegt das Problem nicht in den fehlenden Möglichkeiten, in Großbritannien Asyl zu beantragen, sondern in der Tatsache, dass überhaupt Flüchtlinge ins Land kommen. Cameron kritisiert die Korruption, die seiner Meinung nach in Entwicklungsländern vorherrscht. Theresa May möchte die »Verbrecher« bekämpfen, die Migranten schmuggeln und so Menschenleben gefährden. »Die französischen und britischen Behörden kooperieren und kollaborieren in dieser Sache, die uns beide betrifft. Uns beiden ist klar, dass wir sicherstellen müssen, dass wir uns um die schrecklichen kriminellen Banden kümmern, die aus der menschlichen Tragödie vieler Leute Profit schlagen.« Darüber, wie in Europa allgemein mit Flüchtlingen umgegangen werden soll und welche Rolle Großbritannien dabei spielen soll, wird nicht gesprochen.
Zudem geht das Gerede von Cameron und May am Kern dessen vorbei, was gerade am Eurotunnel passiert. Es handelt sich dort meist um Flüchtlinge aus Kriegsgebieten, die tatsächlich Anspruch auf Asyl hätten. Ihre Entscheidung, durch den Eurotunnel nach Großbritannien zu gelangen, ist auf die fehlenden Möglichkeiten zurückzuführen, legal in Großbritannien Asyl zu beantragen. Großbritannien nimmt wesentlich weniger Flüchtlinge auf als etwa Frankreich, obwohl die Bevölkerung ähnlich groß ist.
Die konservative englische Presse zeichnet dagegen ein Bild wilder Horden, die durch den Tunnel nach Großbritannien stürmen. Die Daily Mail schrieb von der »Schlacht von Calais«, in der die französische Polizei mit den kampfbereiten Flüchtlingen überfordert sei, so dass jetzt Tränengas und Schlagstöcke eingesetzt werden müssten. Der Vorsitzende der rechtskonservativen United Kingdom Independence Party, Nigel Farage, schließt sich dieser Interpretation an und ruft dazu auf, in diesem »Kampf« die Armee einzusetzen.
Dem Kent County Council zufolge sind bisher 629 Kinder ohne Begleitung ihrer Eltern aus Calais nach Großbritannien gelangt und suchen Asyl. Es werden schätzungsweise 5,5 Millionen Pfund für die zusätzlichen Asylanträge benötigt. Die Staus auf der M20 kosten die britische Wirtschaft täglich 250 Millionen Pfund. Händeringend wird nach Notparkplätzen für die LKW gesucht. Camerons Lösung für das Budget: Kürzen des Unterstützungsgeldes für jene, die Asyl beantragen.