Keiner hat’s gewusst

Es gibt vieles, was man an der deutschen Politik kritisieren kann, doch eines zumindest schien bislang klar: Jeder weiß, wofür er zuständig ist. Doch nun herrscht Verwirrung. »Auf Ermittlungen Einfluss zu nehmen, weil deren mögliches Ergebnis politisch nicht opportun erscheint, ist ein unerträglicher Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz«, sagte Harald Range am Dienstag. Der Generalbundeswanwalt scheint nicht zu wissen, welchen Job er hat. Ein Blick auf seine eigene Homepage hätte ihm Klarheit verschaffen können: »Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof ist nicht Teil der rechtsprechenden (›Dritten‹) Gewalt. Er gehört organisatorisch zur Exekutive.« Sollte Range auch entgangen sein, dass er sich »in Erfüllung seiner Aufgaben in fortdauernder Übereinstimmung mit den für ihn einschlägigen grundlegenden kriminalpolitischen Ansichten und Zielsetzungen der Regierung« befinden muss?
Mit seiner Ignoranz befindet sich Range in vielleicht nicht guter, aber prominenter Gesellschaft. Er »untersteht der Dienstaufsicht des Bundesministers der Justiz«, und dieser trägt »gegenüber dem Parlament die politische Verantwortung«. Heiko Maas scheint also, will man es wohlwollend betrachten, auch nicht begriffen zu haben, was sein Job ist. Seine Kollegen im Kabinett spielen in der Debatte um die Ermittlungen gegen Netzpolitik.org (siehe Seite 9) das gleiche Spiel: Keiner hat’s gewusst, keiner hat’s gewollt. Tatsache aber ist: Die Bundesregierung trägt die Verantwortung für die Ermittlungen. Deren Einstellung ist wohl nur eine Frage der Zeit, denn der Vorwurf ist allzu absurd, der Protest allzu breit. Doch einmal mehr dürfte der Urheber, der von Hans-Georg Maaßen geführte Verfassungsschutz, ungeschoren bleiben. Ob Flucht nach vorn einer diskreditierten Behörde, Vorstoß zur Durchsetzung obrigkeitsstaatlicher Prinzipien oder beides – die Bundesregierung lässt dem Geheimdienst freie Hand. Und wir sprechen von einem Geheimdienst, der im Verdacht steht, zumindest indirekt den NSU finanziert zu haben und der vielleicht selbst von der duldsamsten Bundesregierung hätte aufgelöst werden müssen, wenn whistleblower mehr Akten über die Verstrickung in den rechtsextremen Terror vor der Vernichtung gerettet hätten. Auch gegen die Veröffentlichung eines geheimen Berichts über einen V-Mann aus dem Umfeld des NSU hatte der Verfassungsschutz geklagt. Dreister geht es kaum. Range wies diese Klage denn auch zurück, was darauf hindeutet, dass er wusste, was er tat, und keine Aufmerksamkeit auf den NSU-Prozess lenken wollte. Dass die Bundesanwaltschaft dort kein Interesse zeigt, mögliche Mittäter zu ermitteln und das Motiv für den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter aufzuklären, steht wohl auch im Einklang mit den einschlägigen grundlegenden kriminalpolitischen Ansichten und Zielsetzungen der Regierung.