Der Landtagswahlkampf in Baden-Württemberg

Mehr Gender-Wahn wagen

In Baden-Württemberg nimmt der Landtagswahlkampf Fahrt auf. Entscheidend für die nächste Regierungsbildung dürfte sein, ob den kleinen Parteien FDP, Linkspartei und AfD der Einzug ins Stuttgarter Parlament gelingt.

Zwei Wochen nach dem Brandanschlag auf eine geplante Flüchtlingsunterkunft im baden-württembergischen Remchingen wurde fetgestellt, dass Benzin als Brandbeschleuniger verwendet wurde. Die Polizei hält demnach ein fremdenfeindliches Motiv für wahrscheinlich. Bei ihrem Besuch der Brandruine hatte die Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) beteuert, der Anschlag sei »ein absoluter Ausreißer, nicht die Regelstimmung im Land«. Dennoch lud Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) vergangene Woche eiligst zu einem »Flüchtlingsgipfel«.
Etwa 22 000 Asylsuchende sind im ersten Halbjahr nach Baden-Württemberg gekommen, die Zahl wird sich bis zum Jahresende mehr als verdoppeln. Weil sowohl in den Landeserstaufnahmestellen (LEA) als auch in den Kommunen Plätze fehlen, soll die Wohnraumförderung aufgestockt und gleichzeitig die geplante Ausdehnung der Mindestwohnfläche für Flüchtlinge von 4,5 auf sieben Quadratmeter zurückgestellt werden. Weitere Kapazitäten hofft man durch vermehrte Abschiebungen zu gewinnen. Flüchtlinge ohne Aussicht auf ein Bleiberecht sollen direkt aus den LEA abgeschoben werden. Abgelehnten Flüchtlingen, die trotz »gezielter Beratung« nicht freiwillig das Land verlassen oder ihre Abschiebung zu verhindern suchen, sollen die Leistungen gekürzt werden. Nur den »schaffigen Menschen« aus dem Westbalkan möchte Wirtschaftsminister Nils Schmid (SPD) einen »Spurwechsel« ermöglichen. Sie sollen bleiben dürfen, wenn sie binnen sechs Monaten einen Arbeitsplatz nachweisen können.
Besser als die grün-rote Landesregierung hätte auch eine CDU-Regierung die viel beschworenen Grenzen der Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung nicht berücksichtigen können. Der Ministerpräsident ist landesweit entsprechend beliebt, gegenüber seinen Herausforderern bei der im März 2016 anstehenden Landtagswahl genießt er einen riesigen Popularitätsvorsprung. SPD-Spitzenkandidat Nils Schmid hat keine Aussicht, das Kräfteverhältnis in der grün-roten Koalition umzukehren, seine Partei droht weiter Stimmanteile zu verlieren. CDU-Generalsekretärin Katrin Schütz forderte Schmid bereits auf, nicht länger auf dem »abstrusen Gedanken« zu beharren, Ministerpräsident werden zu können. Aber auch für den CDU-Spitzenkandidaten Guido Wolf wird es nicht einfach. Zwar wird die CDU die mit Abstand stärkste Partei im Land bleiben, aber nach aktuellen Umfragen bleibt sie unter der 40-Prozent-Marke und kann deshalb, obwohl der FDP ein knapper Wiedereinzug in das Länderparlament prognostiziert wird, nicht mit einer sicheren Regierungsmehrheit rechnen. Zumal nach aktuellen Prognosen auch die Linkspartei über die Fünf-Prozent-Hürde kommt und damit rechnerisch auch eine grün-rot-rote Koalition möglich wäre.

Die Christdemokraten, die im Südwesten knapp 58 Jahre ununterbrochen regiert haben, tun sich schwer, ihren Wahlkampf aus der Opposition heraus zu führen. Guido Wolf hatte sich im Dezember bei einer Mitgliederbefragung überraschend gegen den CDU-Landesvorsitzenden Thomas Strobl durchgesetzt, schaffte es aber bisher kaum, über die Parteigrenzen hinaus bekannt zu werden. Laut einem Bericht der Stuttgarter Zeitung wurde zudem der Vorschlag, mit dem Slogan »Oben bleiben« in den Wahlkampf zu ziehen, umgehend abgelehnt: Es ist die Parole der Gegner des Bahnhofsprojekts Stuttgart 21. Mit ihr sollte für einen Regierungswechsel als Garantie für ­einen Spitzenplatz Baden-Württembergs im innerdeutschen Ländervergleich geworben werden. Der Vorschlag dürfte nicht nur an der fehlenden Selbstironie der CDU gescheitert sein. Er verbietet sich aufgrund der erfolgreichen Wirtschaftsdaten von selbst. Just zur Sommerpause hat die Landesregierung eine Wachstumsrate von über zwei Prozent bis zum Jahresende angekündigt.
»Orange ist das neue Schwarz« hat sich sichtbar als neues Werbekonzept der Partei durchgesetzt. Die neue Grundfarbe erstrahlt auf Plakaten, Broschüren und Websites und dominiert die Dekoration bei Wahlveranstaltungen. Wenn Grün das neue Schwarz ist, warum sollte dann nicht auch Schwarz den Farbton wechseln, werden sich die verantwortlichen CDU-Mitglieder gedacht haben. Ob sie auch bedacht haben, dass der Werbeslogan eine gleichnamige US-Serie zitiert (»Orange Is the New Black«), in der eine bisexuelle Protagonistin in einem Frauengefängnis landet und dort unter anderem auf lesbisch-queere Insassinnen trifft, darf bezweifelt werden. Schließlich ist »sexuelle Vielfalt« das größte Reizthema im Südwesten. Und da die Landesregierung wirtschaftspolitisch kaum Angriffsfläche bietet, wird die CDU den Wahlkampf wohl als Kulturkampf führen.
Neben dem Vorwurf, die Regierung betreibe zugunsten der Gemeinschaftsschule eine systematische Abwertung des Gymnasiums, sorgt vor ­allem der im Juni vom grün-roten Kabinett beschlossene Aktionsplan »Für Akzeptanz und gleiche Rechte« in der Opposition für Unmut. Mit ihm soll der Diskriminierung von »lesbischen, schwulen, bisexuellen, transsexuellen, transgendern (sic), intersexuellen und queeren Menschen (LSBTTIQ)« im Bildungswesen, in der Arbeitswelt und im Freizeitbereich entgegengewirkt werden. Allerdings stellt sich für Wolf das Problem, die Kritik seiner Partei von der Hetze noch weiter rechts stehender Gruppierungen abzugrenzen. Schließlich mobilisiert der klerikalkonservative Widerstand gegen den Aktionsplan unter dem Slogan »Demo für alle«. Das Bündnis verschiedener Familien-, Eltern- und Frauennetzwerke fürchtet, durch eine Sensibilisierung für die Lebenswelten von LSBTTIQ-Menschen eine weitere Ausbreitung des »Gender-Wahns«. Das Schlagwort steht für die Abwehr einer vermeintlichen »Frühsexualisierung der Kinder«, gendersensibler Sprache und der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Im Juni richtete Birgit Kelle, die Vorsitzende des Vereins Frau 2000plus, auf der Stuttgarter Demonstration unter dem Motto »Ehe bleibt Ehe« einen Appell an die CDU, sich für die traditionelle Familie und ihre Werte einzusetzen. Der Evangelische Arbeitskreis (EAK) der Christ­demokraten hatte bereits zuvor »allergrößtes Verständnis« für die Demonstrierenden bekundet, einige Ortsverbände nahmen an der Veranstaltung teil. Offiziell überparteilich und überkonfessionell lief die Organisation der »Demo für alle« über den von der AfD-Europaabgeordneten Beatrix von Storch gegründeten Verein »Zivile Koali­tion«. Die AfD hatte es seinerzeit bedauert, nicht mit einem eigenen Redebeitrag offen in Erscheinung treten zu dürfen. Vorvergangenes Wochenende übten die AfD-Mitglieder, die den erzreakti­onären Kurs der neuen Vorsitzenden Frauke Petry mittragen, auf ihrem Landesparteitag in Pforzheim demonstrativ den Schulterschluss mit den »Familienschützern« und forderten »ein unverzügliches Ende der Gender-Ideologie«. Die Partei hat bei den Kommunalwahlen im vorigen Jahr in zahlreichen Wahlkreisen des Südwestens weit über fünf Prozent der Stimmen bekommen, ein Einzug der AfD in den Landtag ist nicht ausgeschlossen. Am Ende könnten der CDU genau diese Stimmen zur Regierungsmehrheit fehlen. Deshalb bemüht sich Wolf nun doch offensiver, die fundamentalchristliche Wählerschaft für seine Partei zurückzugewinnen. In einem Interview mit der Bild-Zeitung sprach er sich vergangene Woche dafür aus, »höchstpersönliche Dinge wie Sexualität wieder mehr ins Private zu verlagern«.