Der große Vollbeschäftigungsschwindel

Die im Dunkeln sieht man nicht

Die niedrigste Arbeitslosenquote seit 1990, von Arbeitsministerin Nahles stolz verkündet, spiegelt keineswegs die wahren Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt wider. Die Manipulation der statistischen Kenn­ziffern begann bereits in den achtziger Jahren.

Die Katholiken springen in die Bresche. »Weil Arbeit nicht vom Himmel fällt … «, unter diesem Titel veranstalten kirchliche Arbeitsloseninitia­tiven regelmäßig eine »Solidaritätskollekte«. Sie finanzieren allein in Aachen Dutzende von Projekten für ältere Arbeitslose, Jugendliche ohne Schulabschluss und Menschen ohne Berufsqualifikation. Denn auf dem Arbeitsmarkt haben diese Personengruppen kaum eine Chance, wissen die Initiatoren. Solche Fürsorgeprojekte werden in Zukunft immer wichtiger. Denn auch unter der katholischen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) gibt es keine Veränderung in der staatlichen Arbeitsmarktpolitik.
Offiziell hat die Zahl der Erwerbslosen in Deutschland im Juli im Vergleich zum Vormonat um 61 000 auf 2,773 Millionen zugenommen. Die Bundesagentur für Arbeit hat für diese Steigerung eigens eine neue Vokabel in Umlauf gebracht: Es handele sich um »Sucharbeitslosigkeit«, sagte der Vorstandsvorsitzende der Arbeitsagentur, Frank-Jürgen Weise. Das bedeutet: Junge Menschen beenden ihre Ausbildung und suchen in den Sommermonaten eine Anstellung. »Insgesamt steht der Arbeitsmarkt aber gut da«, sagte Weise. Denn im Vergleich zum Juli 2014 waren 99 000 Menschen weniger arbeitslos. Für das Gesamtjahr erwartet die Bundesagentur im Schnitt 2,79 Millionen Erwerbslose – das wäre der niedrigste offizielle Wert seit der Wiedervereinigung. »Die Nachrichten vom Arbeitsmarkt sind anhaltend gut«, behauptet Nahles.
Tatsächlich ist die offizielle Arbeitslosenquote stark gesunken. Sie liegt derzeit bei 6,3 Prozent. 2005, im Jahr der Einführung des ALG II, lag sie bei mehr als elf Prozent. Die Bundesrepublik ist dank einer Reihe von Maßnahmen wie der Abwrackprämie zugunsten der Autoindustrie – die sie unter Führung von Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) Griechenland und anderen europäischen Staaten untersagt – vergleichsweise gut durch die seit 2008 andauernde Finanz- und Wirtschaftskrise gekommen. Die deutsche Wirtschaft wächst, die Ausfuhren steigen und steigen. Damit exportiert Deutschland allerdings auch Arbeitslosigkeit in andere Länder. Denn Waren, die hierzulande wegen des niedrigen Lohnniveaus und extrem hoher Produktivität billig hergestellt werden, verdrängen Güter aus anderen Märkten. Von massenhafter Verelendung und schwindelerregenden Erwerbslosenquoten von 25 Prozent und mehr ist Deutschland weit entfernt.
Massenarbeitslosigkeit gibt es aber nach wie vor in der Bundesrepublik. Die Entwicklung in Südeuropa verzerrt den Blick auf die prekären Verhältnisse, die es hierzulande gibt. Der deutsche Arbeitsmarkt ist zweigeteilt – in diejenigen mit Chancen auf Beschäftigung und die ganz oder fast Abgehängten. Auch für Menschen mit guter Ausbildung und Berufserfahrung, die eigentlich gute Beschäftigungschancen haben, ist die Lage schlecht. Drei Millionen Menschen haben nur einen befristeten Job. Viele Menschen sind gezwungen, eine Niedriglohn- oder Teilzeitstelle anzunehmen. Denn wer erst einmal mehr als ein Jahr keinen Job findet und zum Hartz-IV-Empfänger wird, der droht für immer aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen zu bleiben.
Viele Langzeiterwerbslose erscheinen nicht in der offiziellen Arbeitslosenstatistik. Denn in den vergangenen Jahren sind die Parameter der Statistik immer wieder verändert worden, viele Gruppen werden nicht mehr erfasst. Die anhaltende Massenarbeitslosigkeit wird so geschickt kaschiert. Vergleiche mit früheren Jahrzehnten sind kaum möglich. Die von Nahles verkündete Zahl einer Arbeitslosenquote von 6,3 Prozent ist deshalb eine Täuschung. »Die Arbeitsministerin rechnet sich das drängendste Problem der Arbeitsmarktpolitik schön«, sagte Brigitte Pothmer, Sprecherin für Arbeitsmarktpolitik der Grünen im Bundestag. »Sie vernachlässigt die Langzeitarbeitslosigkeit auf fahrlässige Weise.« Auch der Bundesgeschäftsführer der Linkspartei, Matthias Höhn, kritisiert die Ministerin. »Ganz ohne statistische Tricks läge die Arbeitslosigkeit deutlich höher, wie ›Die Linke‹ auch im Juli nachgerechnet hat, nämlich bei 3,524 Millionen Erwerbslosen«, erklärte er. Denn mehr als 780 000 Personen haben im Juli 2015 an einer von der Arbeitsagentur geförderten Maßnahme teilgenommen und gelten deshalb nicht als arbeitslos.
Und das sind längst nicht alle, die aus der Statistik verschwinden. Die Bundesagentur definiert zwar Millionen Menschen nicht als erwerbslos, erfasst sie aber immerhin. »Im Juli 2015 gab es nach vorläufiger Hochrechnung 5 110 000 erwerbsfähige Leistungsempfänger von Arbeitslosengeld und Arbeitslosengeld II«, heißt es im Monatsbericht Juli 2015 der Bundesagentur für Arbeit. Auswertungen über die genaue Zusammensetzung dieser Gruppe erfolgen verzögert. Die aktuellsten Zahlen liegen für März 2015 vor. Seinerzeit waren 2,6 Millionen Leistungsbezieher offiziell als arbeitslos registriert. »Im Umkehrschluss haben damit 2 641 000 Menschen Leistungen bezogen, ohne arbeitslos zu sein«, heißt es in dem Bericht. Bei nur rund 100 000 von ihnen geht die Bundesagentur davon aus, dass sie nicht arbeiten können. Die mehr als 2,5 Millionen übrigen Personen waren in den Augen der Bundesagentur erwerbsfähig, obwohl sie nicht in der offiziellen Arbeitslosenstatistik geführt werden.
Die »Gründe für die Nicht-Arbeitslosigkeit erwerbsfähiger Leistungsberechtigter«, wie es im schönsten Bürokratendeutsch heißt, waren zum Beispiel: Fast ein Fünftel steckte in Fördermaßnahmen, 282 000 Personen betreuten ein Kind oder pflegten Angehörige, 159 000 Erwerbslose galten nicht als arbeitslos, weil für sie Sonderregelungen für Ältere eingeführt wurden. Wer älter als 58 Jahre ist und seit mehr als zwölf Monaten Arbeitslosengeld II bezieht, wird in der Statistik nicht berücksichtigt. »Einen grundlegenden Kurswechsel« in der Arbeitsmarktpolitik fordert Adolf Bauer, Präsident des Sozialverbands Deutschland (SOVD). Denn wer in den Statistiken nicht mehr als arbeitslos geführt wird, hat auch kaum Chancen auf Förderung durch die Bundesagentur.
Die Arbeitslosenquote ist eine politische Größe. Es ist noch gar nicht so lange her, dass in Deutschland tatsächlich Vollbeschäftigung herrschte. In der DDR gab es keine Massenarbeitslosigkeit, die staatliche Arbeitsmarktpolitik sorgte für Stellen. In den fünfziger und sechziger Jahren gab es in Westdeutschland aufgrund des rasanten Wirtschaftswachstums mehr Arbeitsplätze als Menschen, die sie einnehmen konnten. Das änderte sich mit dem ersten Konjunktureinbruch 1967. Damals wurden von der Großen Koalition die ersten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen wie Umschulungen für Erwerbslose eingeführt. Als in der alten Bundesrepublik die Arbeitslosenzahlen die Millionengrenze überschritten, reagierten Öffentlichkeit und Politiker alarmiert. Massenarbeitslosigkeit war das zentrale politische Thema dieser Zeit.
Hohe Erwerbslosenzahlen erzeugten damals und erzeugen auch heute große Angst vor politischer Instabilität. Die Furcht richtet sich dabei aber nicht auf die Erwerbslosen, sondern auf vermeintliche oder tatsächliche »radikale« Akteure, die mit der Arbeitslosenzahl arbeiten könnten. Deshalb ist es für die Politik so wichtig, eine akzeptable Quote vorweisen zu können. Die sozial-liberale Koalition scheiterte 1982 auch, weil ihr das nicht gelang. Helmut Kohl war mit dem Versprechen angetreten, viele neue Arbeitsplätze zu schaffen – und suggerierte, Vollbeschäftigung herstellen zu können. Das gelang ihm nicht, aber immerhin betrieb seine Regierung aktive Arbeitsmarktpolitik. Mit ABM-Stellen, den »Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen«, bezuschusste das Arbeitsamt bis zu zwölf Monate Jobs auf dem sogenannten zweiten Arbeitsmarkt, um die Wiedereingliederung von Erwerbslosen zu fördern. Davon profitierten in den achtziger Jahren auch viele soziale und politische Projekte. Nach der Wende wurden im Osten Hunderttausende ABM-Stellen geschaffen, um die Arbeitslosigkeit abzufedern.
Seit 2012 gibt es keine ABM-Stellen mehr, schon vorher waren die Mittel im Zuge der Hartz-Reformen stark gekürzt worden. Auch andere arbeitsmarktpolitische Instrumente sind in den vergangenen Jahren stark abgebaut worden. Die Qualität etwa der angebotenen Fort- und Weiterbildungen wird von Teilnehmenden und Arbeitsmarktforschern zwar mitunter heftig kritisiert. Denn häufig orientieren sie sich an Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, die schon der Vergangenheit angehören, wenn die Schulungen abgeschlossen sind. Nicht selten werden Schulungen von Erwerbslosen auch als Drangsalierung empfunden, etwa wenn Mitarbeiter der Arbeitsagentur sie in Fortbildungen drängen, die ihren Fähigkeiten und Neigungen nicht entsprechen. Auf freiwilliger Basis und unter Einhaltung hoher Standards sind Bildungsmaßnahmen aber sehr sinnvoll, um Erwerbslosen die Chance zu geben, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Fast die Hälfte der langfristig Erwerbslosen hat keine abgeschlossene Berufsausbildung.

Doch die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen – Fortbildungen, Lohnsubventionierung und öffentliche Beschäftigung – sind in den vergangenen Jahren eingeschränkt worden. Im Jahr 2010 haben jeweils mehr als 800 000 Empfänger von Arbeitslosengeld II und II an Fortbildungen teilgenommen, jetzt sind es jeweils unter 400 000. Wissenschaftler, Gewerkschaften, Grüne und Linkspartei fordern den Ausbau von Maßnahmen zur Beschäftigungspolitik. »Besonders Ältere, Menschen mit Behinderungen und Migranten haben einen enorm schweren Stand am Arbeitsmarkt«, sagt Sabine Zimmermann, die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag. Von der vermeintlich guten Arbeitsmarktlage komme bei ihnen nur wenig an. Die Linkspartei fordert einen Rechtsanspruch von Erwerbslosen auf Förderung, vor allem auf Weiterbildung.
Die Manipulation der Arbeitsmarktzahlen dient nicht nur dazu, solche Forderungen abzuschmettern. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fürchtet, dass sich die Bundesregierung auf den vorliegenden Arbeitsmarktzahlen ausruhe und im Koalitionsvertrag anvisierte Verbesserungen für Erwerbslose nicht in die Wege leite. »Gerade jetzt sollte die Regierungskoalition sinnvolle Änderungen in der Arbeitsförderung auf den Weg bringen, um für die kommenden Herausforderungen besser gerüstet zu sein«, sagte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Im Koalitionsvertrag haben SPD, CDU und CSU unter an­derem vereinbart, kurzfristig Beschäftigten einen leichteren Zugang zum Arbeitslosengeld zu verschaffen, damit sie nicht so rasch ins ALG II fallen. Denn bislang wird jeder Vierte, der seine Stelle verliert, direkt zum Hartz-IV-Empfänger, auch wenn er Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt hat. Die Union blockiert diese Veränderung und auch von Nahles dürfte hier kein großer Eifer zu erwarten sein, wenn man ihre aktuelle Bewertung des Arbeitsmarkts betrachtet.