Anthroposophen wittern dunkle Mächte

Ein kosmisches Komplott

Seit einem Jahrhundert glauben Anthroposophen an eine übersinnlich gelenkte Verschwörung gegen das spirituelle Deutschland. Die Geister der Finsternis sollen dafür die Verantwortung tragen. Egal ob Masern, Juden oder TTIP – die ­dämonische Bedrohung lauert überall.

Im Juli 2015 sandte der Bund der Freien Waldorfschulen eine Warnung vor rechten Demagogen an die Kollegien aller Mitgliedsschulen. Darin hieß es, im vergangenen Jahr seien Waldorfschulen mindestens fünf Mal wegen Verbindungen mit Rechten in die Presse gekommen. Pressesprecher Henning Kullak-Ublick fordert, den Politikunterricht zu verbessern, statt sich zur Plattform für reaktionäre Propaganda zu machen. Anlass des Schreibens war ein Vorfall im Juni. Die Schülermitverwaltung der Freien Waldorfschule Filstal hatte den antisemitischen Verschwörungsideologen Ken Jebsen – selbst ehemaliger Waldorfschüler – zu einer Tagung eingeladen. Zwar distanzierte sich die Schule in letzter Minute von Jebsen, kein Problem sah man hingegen in dem gleichfalls eingeladenen Wiener Truther-Rapper und Montagsdemoteilnehmer Kilez More, der unter anderem von Chemtrails und der New World Order überzeugt ist. Erst wenige Wochen zuvor hatte der Waldorfbund die Entlassung des Lehrers Wolf-Dieter Schröppe von der Waldorfschule Minden gefordert, der über 20 Jahre in der rechten Szene aktiv war. Die Schule unterstütze zunächst den Kollegen und bestritt dessen rechte Gesinnung. Erst im August wurde Schröppe gekündigt, laut der Schule, weil sich die Auseinandersetzung, auch durch Journalisten, so sehr zugespitzt habe, dass kein konstruktives Gespräch mehr möglich sei. Kritiker weisen seit den neunziger Jahren immer wieder auf ähnliche Vorfälle hin. Erst seit 2014 der Geschäftsführer der Waldorfschule Rendsburg aufgrund von Kontakten ins »Reichsbürger«-­Milieu entlassen wurde, scheint der Bund tätig zu werden. Im Dezember legte er eine Broschüre über die reichsideologische Bewegung vor, in dessen engerem Fokus die Waldorfschulen stünden. Nach der Entlassung des Rendsburger »Reichsbürgers« hat sich die Schule tief zerstritten. Der Eurythmielehrer Arfst Wagner, ein ehemaliger Bundestagsabgeordneter der Grünen, hatte durch Recherchen entscheidend zur Entlassung seines Kollegen beigetragen. Wagner hat die Schule inzwischen verlassen und sich wieder der Politik zugewandt: »Unter anderem, weil aus meiner Sicht an der Schule auch nach der Kündigung die Strukturen, die durch den Geschäftsführer ein­geführt wurden, weiterhin bestehen. Aus einer selbstverwalteten solidarischen Schule wurde eine hierarchisch geführte Institution«, so Wagner. Die anthroposophische Alternativkultur kann eine Reihe neovölkischer Sympathisanten vorweisen, von Waldorf-Schulen und der Demeter-Landwirtschaft bis hin zu Grundeinkommens­initiativen. Die verschwörungsideologischen Sympathisanten der Waldorf-Szene spüren – möglicherweise unbewusst – den ursprünglichen politischen Kontext dieser Weltanschauung, der sie für solcherlei Gedankengut anschlussfähig macht. Die Anthroposophische Gesellschaft ist 1913 als Abspaltung der Theosophischen Gesellschaft Adyar entstanden. Deren vermeintlich indischem Gedankengut wollte Rudolf Steiner eine mitteleuropäische und christliche Esoterik entgegenstellen. Ihm gelang es, seine völkischen Konkurrenten zu kritisieren und zugleich das eigene Ressentiment als universelle Menschheitsbefreiung zu verkaufen. Heutige Kritiker halten sich zu Recht oft an den hässlichen Rassenlehren Steiners und seiner Anhänger auf. Deren Evolutionsideologie sieht jedoch die allmähliche »Überwindung« der Rassen durch das »Ich« vor, wofür der »Sonnengeist« Christus verantwortlich ist. Nationalismus heißt für Steiner Rückfall in ein blutgesteuertes Kollektivbewusstsein, das er mit dem »Mondgeist« Jahwe assoziiert und im Judentum verkörpert sieht. Dagegen steht die »urdeutsche Tugend des Kosmopolitismus«, die nur im »Ich« errungen werden kann. Dem »deutschen Volksgeist« kommt somit die Weltmission zu: »Deutscher ist man nicht, Deutscher wird man.« Der Erste Weltkrieg war ein kosmisches Komplott gegen die Mission Steiners: »Okkulte Logen«, »Brüder des Schattens« hinter dem »Angloame­rikanertum« strebten die Weltherrschaft an. Sie stünden unter dem Einfluss des Dämonen Ahriman und seiner Scharen, die den guten Gang der Weltentwicklung verhindern wollten. Zur Domäne dieser »Geister der Finsternis«, die der Erzengel Michael gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf die Erde geworfen habe, gehören Materialismus, Technisierung und Intellektualismus. Völkischer Blutrausch gilt Steiner als ahrimanischer Materialismus, er selbst lässt die Volksgemeinschaft derweil als geistige auferstehen. Diese Legierung aus nationalistischen Einkreisungsphantasien und proklamiertem Kosmopolitismus, Amerikahass und strikt antijüdischen Obertönen bildet den Kern von Steiners Zeitdiagnose, gegen die er seine Utopie der Sozialen Dreigliederung stellte. Während heutige Anthroposophen die »Geister der Finsternis« auch im NS am Werk sehen – schließlich wurde die Anthroposophische Gesellschaft 1935 verboten –, entdeckte 1933 etwa der einflussreiche Sozialwissenschaftler und Anthroposoph Roman Boos in der »deutschen Erneuerung« die Erfüllung von Steiners Erwartungen. Weil nationalsozialistische Esoterik-Hasser wiederum den 1925 verstorbenen Steiner als Teil der Weltverschwörung denunzierten, gab der Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft den Band »Rudolf Steiner während des Weltkriegs« heraus. Im Vorwort wetterte Boos gegen den »ökonomischen ›Geist‹« in Ost und West. Steiner gehöre »gerade der unmittelbaren Gegenwart – der Gegenwart von 1933«. Tagebuchnotizen des Vorstandsvorsitzenden Albert Steffen zeigen, dass dieser Hitler als Marionette der Geister der Finsternis betrachtete und selbst das wahre »Deutschtum« beanspruchte: »Bei ihm Blut, bei uns Geist.« Steffen adoptierte ein jüdisches Kind, gegen Boos ging er dennoch nicht vor – sondern wollte die Nazis durch Meditation und spirituelle Kunst überwinden. Der Vorsitzende der deutschen anthroposophischen Landesgesellschaft, Hans Büchenbacher, wurde 1934 wegen seines jüdischen Vaters von seinem Posten verdrängt. Er kritisierte rückblickend, dass zwei Drittel der Anthroposophen mit dem Nationalsozialismus sympathisierten, und spekulierte über Hitler und die »Thule-Gesellschaft« als Diener der westlichen »Logen«. Die Kontinuität dieser Vorstellung beweist die antroposophische Zeitschrift Der Europäer aus Basel, deren Chefredakteur Thomas Meyer im September einen ganztägigen Kurs über die bevorstehende »Inkarnation Ahrimans« abhalten will. Schon Steiner hatte die baldige Fleischwerdung Ahrimans »im Westen« prophezeit. Im Bündnis mit Christus und dem Erzengel Michael soll die Anthroposophie die spirituellen Waffen gegen die dämonische Bedrohung schmieden. Meyer weiß, wo Ahriman steckt: »Ukraine, Israel, ISIS, TTIP, der ›Krieg gegen den Terror‹.« Lieblingsthema der Europäer-Redaktion scheinen Apologien des Ersten Weltkriegs zu sein. Von der »Kriegsschuldlüge« und den amerikanisch-okkulten Kräften, die sie zu verantworten haben, geht sie dabei nahtlos zum »Inside Job« 9/11 über. Dazu schreiben auch Konspirationsexperten wie der Kopp- und Compact-Autor Gerhard Wisnewski und der Schweizer »Friedensforscher« Daniele Ganser, ein weiterer ehemaliger Waldorfschüler. Im anthroposophischen Zentralblatt Das Goetheanum wurde der Begriff Verschwörungstheorie kürzlich als »tödliches Waffenwort« denunziert, das aus dem Wortschatz verbannt werden müsse. Von Steiners Metaphysik der Weltverschwörung zehren auch viele dem Anspruch nach linke und grüne Anthroposophen: Joseph Beuys beispielsweise, der sich für direkte Demokratie und gegen Amerika einsetzte, das »die ganze Welt versaut« habe. »Auschwitz existiert weiter auf eine andere Art«, meinte er. »Nicht mehr diese primitive Methode, dass man Menschen ins Feuer wirft und sie so vernichtet, aber heute vernichtet man sie durch diese Art von Wirtschaft, die die Menschen innerlich aushöhlt und zu Konsumsklaven macht … « Dagegen stellte Beuys mit Steiner den »sozialen Organismus«, einen regressiv-holistischen Wärmekosmos, der in seinen Kunstwerken durch Filz und Honig anschaulich wird. Steiners okkulter Politikbaukasten ermöglicht es seit einem Jahrhundert, den anthroposophischen Weltgeist mit beliebiger zeitgeistiger Paranoia kurzzuschließen. Wenn einige seiner Erben sich heute auf Ken Jebsen oder Daniele Ganser berufen, ernten sie bloß die Früchte ihrer Gründer­tage. Zwar stellen sich manche Anthroposophen gegen den neurechten Trend. Sie kämpfen aber gegen die eigene Tradition. Deren Alternativkultur ist dem anthroposophischen Milieu derweil längst entwachsen, obwohl Anhänger und Kritiker oft das Gegenteil behaupten. Niemand braucht mehr Steiner, um esoterischen Schöngeist mit politischem Wahn zu verbinden. Waldorfschulen heute sind ein Sammelbecken für ein sich progressiv dünkendes ökologisches wie alternativ-pseudokritisches Publikum. Hier stoßen Impfgegner oder esoterische Coaching-Methoden auf ebenso offene Ohren wie die vernunftwidrig-provokative Lüsternheit des Verschwörungsglaubens. Der Autor betreibt den anthroposophiekritischen »Waldorfblog« (waldorfblog.wordpress.com).