In Berlin warten hunderte Flüchtlinge auf Hilfe

»Unterlassene Hilfeleistung«

Vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales campieren Hunderte von Flüchtlingen unter menschenunwürdigen Bedingungen. Die Behörde scheint überfordert, die Opposition übt heftige Kritik am Senat.

»Wir brauchen hier Unterstützung vom Technischen Hilfswerk«, forderte Diana Henniges von der Bürgerinitiative »Moabit hilft!« am Freitag vergangener Woche vehement. Die Situation in der Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Berlin-Moabit war zu diesem Zeitpunkt katastrophal. In der sengenden Hitze warteten mehrere Hundert Menschen auf eine Unterkunft, zum Teil schon seit Tagen. »Wir machen uns besonders Sorgen um die Schwächeren«, sagte Henniges. »Kleinkinder, unter anderem Säuglinge von drei bis sechs Monaten, oder Ältere, die bereits eine strapaziöse Reise hinter sich haben und hier stranden«, litten besonders unter den Zuständen, so Henniges. Viele Flüchtlinge campieren wegen der langen Wartezeiten auf dem Gelände der Erstaufnahmestelle oder im nahegelegenen Tiergarten. Sie warten, dass sie endlich an die Reihe kommen. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) kommt seit Wochen mit der Bearbeitung der Anträge nicht mehr hinterher. Selbst wenn die Flüchtlinge in der Erstaufnahmestelle erfasst werden und eine Kostenübernahme für ein Hostel bekommen, stehen sie häufig trotzdem auf der Straße. »Diese Hostelgutscheine sind leider nicht das Papier wert, auf dem sie stehen«, berichtet Henniges. Entweder sind die Kapazitäten der Hostels längst ausgeschöpft oder die Besitzer weigern sich, die entsprechenden Kontingente freizugeben, weil das Amt mit seinen Zahlungsverpflichtungen im Verzug ist. Derzeit sollen dem Amt mindestens 4 000 nicht bezahlte Hostelrechnungen vorliegen.

Am Freitag vergangener Woche eskalierte die Situation. Etwa 15 Asylsuchende versuchten, das Gebäude ohne Erlaubnis zu betreten. Grund dafür war die Tatsache, dass »es zum Ende wohl keine Unterkunft mehr gab«, erklärte ein Unterstützer. Den Aufforderungen des Sicherheitsdienstes, den Bereich zu verlassen, kamen alle Flüchtlinge bis auf einen nach. Diesen versuchte ein Mitarbeiter »aus dem Bereich zu schieben«, berichtete die Berliner Polizei. »Im weiteren Verlauf soll der Mann die Hand des Angestellten weggeschoben und diesen am T-Shirt ergriffen haben, woraufhin Kollegen des Angestellten den Mann zu Boden brachten.« Daraufhin brach Tumult aus. Es soll zu »Stein- und PET-Flaschenwürfen« aus der Menge gekommen sein. Auch mit Schuhen und Obst sei nach dem Sicherheits­personal geworfen worden, so dass die Mitarbeiter »sich in das Gebäude zurückziehen mussten«. Die eintreffende Polizei, die der eigenen Darstellung zufolge ebenfalls mit Wurfgeschossen attackiert wurde, setzte Reizgas gegen die Asylsuchenden und ihre Unterstützer ein. Ein 29jähriger Flüchtling wurde bei dem Gerangel leicht verletzt und ein 22jähriger Unterstützer wegen Landfriedensbruchs und Widerstands gegen die Staatsgewalt festgenommen.

Eine humanitäre Katastrophe in Moabit wurde letztlich nicht durch das Technische Hilfswerk (THW) oder das Lageso verhindert, sondern durch das Engagement Hunderter freiwilliger Helfer aus der gesamten Stadt. Als kurzfristige Übergangshilfe wurden private Unterkünfte gestellt. Die Unterstützer brachten große Mengen Trinkwasser, Windeln, Süßigkeiten und kiloweise Obst und Gemüse nach Moabit.
Unter den Helfern war auch, wie eine Unterstützerin im Internet berichtete, »ein junger Mann aus Lichtenberg, welcher gegen Ausländer ist, Hartz IV bekommt« und der »keine Kinder mag«. Die Frau bat ihn, ihr beim Tragen zu helfen. Wohin, sagte sie ihm nicht. Als der unfreiwillige Helfer dann die Zustände in der Erstaufnahmestelle sah, war er dermaßen entsetzt, dass er »am liebsten« vor Ort geweint hätte, so die Unterstützerin. Ihr Posting in der Facebook-Gruppe »Moabit hilft« endete mit einem Ausrufezeichen: »Er hat mitgeholfen!«
Das Landesamt für Gesundheit und Soziales betrachtet das ehrenamtliche Engagement der Bürger offenbar als Zumutung: Die Flüchtlinge könnten sich an einem Hahn mit Leitungswasser versorgen und zusätzlich erhielten sie von den Berliner Wasserbetrieben mehrere tausend Liter Wasser in Plastikbeuteln. Außerdem bekämen sie Unterkünfte zugewiesen. Es gebe sanitäre Anlagen und verdurstet sei auch niemand, erklärte ein Sprecher. Das Landesamt sei kein Beherbergungsbetrieb, sondern eine Behörde, und dass Menschen länger für etwas anstünden, kenne man schließlich auch von Apple-Kunden. Manche der Asylbewerber schliefen sowieso lieber auf der Straße, so der Sprecher.
Vertreter der Opposition im Berliner Abgeordnetenhaus aus Grünen, Links- und Piratenpartei forderten den Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) auf, die Flüchtlingspolitik zur Chefsache machen. Vor allem die Tatsache, dass Sozialsenator Mario Czaja (CDU) trotz der Zustände vor dem Lageso seinen Urlaub nicht abgebrochen habe, empörte die Opposition. Der frühere Vorsitzende der Piratenfraktion, Oliver Höfinghoff, stellte am Freitag Strafanzeige gegen Czaja sowie den Lageso-Leiter Franz Allert wegen unterlassener Hilfeleistung. Heiko Herberg, der parlamentarische Geschäftsführer der Piratenfrak­tion, bemängelte das Fehlen eines Gesamtkonzeptes für die Stadt, in dem die Flüchtlinge nicht mehr nur als Problem betrachtet würden. »Viele von den Menschen, die jetzt kommen, werden auch da bleiben«, so Herberg, provisorische Unterkünfte für die Asylbewerber reichten nicht mehr aus. Es müssten mehr Wohnungen gebaut werden, die später beispielsweise auch für Studenten oder Obdachlose genutzt werden könnten.

Ein verstärkter Wohnungsneubau könnte auch die obskuren Geschäfte im Zusammenhang mit der Unterbringung von Flüchtlingen eindämmen. Wie aus einer Anfang August veröffentlichten Antwort der Sozialverwaltung auf eine Anfrage der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus hervorgeht, griffen Berliner Behörden auf der ­Suche nach neuen Unterkünften für Flüchtlinge offenbar auch auf Makler zurück. Rund 186 000 Euro an Maklerprovisionen für die Beschaffung von drei Unterkünften in den Berliner Stadtteilen Charlottenburg und Pankow soll das Lageso ausgezahlt haben. Allein für eine Unterkunft in der Soorstraße flossen 96 000 Euro an Provision an die Maklerfirma. Dabei habe man weder eine Wirtschaftlichkeitsbetrachtung der Maklerprovisionen vorgenommen noch überprüft, ob die Maklerfirma mit dem Eigentümer und Betreiber der Immobilien verflochten waren.
»Insgesamt ist das Geschäft mit Flüchtlingen eine Lizenz zum Gelddrucken und erst recht, wenn nicht ordentlich kontrolliert wird und auch nicht kontrolliert werden kann«, sagte der Pan­kower Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung, Jens-Holger Kirchner (Die Grünen), dem RBB zur Gesamtsituation in Berlin. Im Stadtteil Lichtenberg kassiert nach Recherchen der B.Z. eine Firma für die Unterbringung einer Flüchtlingsfamilie vom Lageso monatlich 10 000 Euro. Die Mutter und ihre sechs Kinder wohnen in einer Vier-Zimmer-Wohnung, abgerechnet wird zum üblichen Satz von 50 Euro pro Person und Nacht. Bei einer siebenköpfigen Familie macht das monatlich mehr als 10 000 Euro. Laut B.Z. beträgt die Warmmiete für die Wohnung monatlich eigentlich nur 990 Euro. Für diese Summe hat die Firma die Unterkunft von dem landeseigenem Immobiliendienstleister Berlinovo gemietet, der in der Hauptstadt rund 7 000 Apartments verwaltet.