Der Roman »Das bessere Leben« von Ulrich Peltzer

Besser ist relativ

Die Gegenwart erweist sich als stabile Form der Krise: Ulrich Peltzers Roman »Das bessere Leben«.

Vier Tote. Die Nationalgardisten des Staates Ohio schossen während einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg auf dem Campus der Kent State University aus großer Entfernung, ohne bedroht oder bedrängt worden zu sein. In die Gewehrläufe, aus denen sie feuerten, hatten Studenten zuvor noch Fliederzweige gesteckt. Blumen seien eben besser als Kugeln, so eine der Studentinnen, kurz bevor das Feuer eröffnet wurde. Vier Tote, zahlreiche Verletzte, keine Anklagen gegen die Soldaten, folglich auch keine Verurteilungen.
Ulrich Peltzers neuer Roman »Das bessere Leben« setzt die Erinnerung an das Massaker vom 4. Mai 1970 an seinen Beginn. Wenn man bei der etwas naiven Sichtweise bleibt, dass Blumen besser als Kugeln seien (wer wollte das bitte bestreiten?) , dann kann man sagen, dass sich mit dem Kent-State-Massaker die Gewalttätigkeit des Staates unverblümt gezeigt hat.
Man kann das gleiche Geschehen aber auch mit dem Begriff der Souveränität fassen: Auch in der rechtserhaltenden Gewalt eines demokratischen Staates sind die Spuren einer begründenden Gewalt stets latent anwesend, manchmal blitzt diese auch unverstellt auf. Die begründende Gewalt versetzt uns in Schrecken, weil sie bestehende Rechtsordnungen nicht anerkennt, weil sie auf deren Überwindung zielt. Erst im Nachhinein wird sie sich legitimieren (oder, getrieben vom Phantasma der Selbstreinigung, in den Exzess der »Säuberung« kippen). Die Geschichte linker Bewegungen ist auch eine Geschichte der Konfrontation mit den Spuren begründender Gewalt – sei diese von den Bewegungen nun aktiv ausgeübt (»bewaffneter Kampf«) oder traumatisch erlitten worden (»Staatsterror«). In Peltzers Roman ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts eine Geschichte des Verhältnisses zur Gewalt, was in der Rezeption des Romans bisher kaum jemanden zu interessieren scheint.
Das bessere Leben, das der aufgeklärte, demokratische, westlich-liberale Staat verspricht, besteht aus Nixon, Napalm und der Nationalgarde. »No more war, no more napalm, no more Nixon«, skandieren dementsprechend die protestierenden Studenten (nicht nur) auf dem Campus in Kent. Peltzer beschreibt dies in einer atmosphärischen Dichte, die einen durchaus überwältigt.
Die moderne Gesellschaft ist nicht nur ausdifferenziert und komplex, in ihr wird notfalls auch mit gnadenloser Härte die Machtfrage verhandelt, etwa dann, wenn »ein seltsames Geräusch durch die Luft platzt … und wieder, mehr als ein Dutzend Soldaten, die dort oben in die Hocke gegangen sind … FEUER! … das ist doch, rast es durch Barrys Gedanken, Einschüchterung … geht in Deckung, wird gebrüllt, Schreie, zurück, zurück, er ergreift Allisons Hand und zieht sie nach ein paar Schritten hinter einem parkenden Auto auf den Asphalt, während immer noch dieses Geräusch … plong, plong, plong … jemand robbt hinter einen Kotflügel, Splitter von einer Windschutzscheibe prasseln herab, dann … nichts mehr … von einem Augenblick zum nächsten, wie abgeschnitten. Barry hebt vorsichtig seinen Kopf, die Soldaten … in loser Formation marschieren sie über die Hügelkuppe, vorbei, es ist vorbei, er beugt sich zu Allison und fragt: Bist du okay? Sie antwortet nicht.« Vier Tote.
Im Feuilleton wurde hitzig diskutiert, dem Buch wurden unter anderem sein hohes Maß an Komplexität, die Unverbundenheit der Erzählstränge und eine klischeehafte Sprache vorgeworfen. Man könnte sich sicherlich einmal eingehender mit der Frage beschäftigen, ob die teilweise affektgeladene Rezeption von Peltzers Roman nicht auch in Verbindung mit der nahezu gänzlichen Bankrotterklärung des deutschen Journalismus im Zuge der Griechenland-Krise steht. Denn als einen Krisen-Roman muss man »Das bessere Leben« in erster Linie begreifen. Krise nicht verstanden als eine konkrete Finanz- oder Wirtschaftskrise, sondern Krise als ein Strukturmerkmal der kapitalistischen Gesellschaften und ihrer Geschichte – die dementsprechend Subjekte in der Krise hervorbringt. Und Krise verstanden als ein ­relativ stabiler Zustand, der das krisenhafte Ereignis permanent abwendet und abwehrt. »Das bessere Leben« ist in einer Zeit angesiedelt, in der das Schlagwort vom besseren Leben eine Verklausulierung für die Ideologie des Nicht-Ideologischen ist.
Ein solcher Krisen-Roman kann kein Beglaubigungsroman, keine Befindlichkeitsprosa und auch kein historischer Roman sein. »Das bessere Leben« entfaltet eine hochgradig reflektierte politische Ästhetik, der es um die Möglichkeiten geht, Krisenhaftigkeit und die Vermeidung des krisenhaften Ereignisses zu erzählen. Darin eröffnet der Roman ein enormes Spannungsfeld. Für diese Spannung sind drei Aspekte grundlegend. Erstens die historischen und philosophischen Bezugspunkte, insbesondere aus dem Kontext linker Bewegungen und der poli­tischen Theoriebildung des 20. Jahrhunderts: die kommunistische Bewegung der Zwanziger und Dreißiger und die Erfahrung des Exils, der Spanische Bürgerkrieg, die 68er-Bewegung, der bewaffnete Kampf der Roten Brigaden, dazu Foucault, Benjamin, Deleuze, Adorno.
Damit ist der Resonanzraum umrissen, in dem sich die Figuren des Romans Anfang des 21. Jahrhunderts bewegen. Diese sind der zweite Bestandteil des Spannungsverhältnisses. Die beiden Hauptfiguren (und auch die zahlreichen Nebenfiguren) kann man nämlich nicht gerade als politische Aktivisten bezeichnen. Irgendwie hatten sie zwar einmal Teil an politischen Bewegungen oder einer zumindest leicht dissidenten Kultur, doch das ist lange her. Jochen Brockmann (»Ich … im Grunde bin ich Verkäufer.«) ist globaler Sales Manager eines krisengeplagten italienischen Maschinenbau-Konzerns; Sylvester Lee Fleming (»hallo, ihr, drittes Millennium! (…) Kapitalvermittlung, Kredit­ausfall, Risk Management.«) begreift sich als Risikomanager, der »in delikaten Situationen« mit einer Reihe teilweise dubioser Produkte und Geschäftspraktiken das Akkumulationsregime am Laufen hält. Beide haben eigentlich keine Beziehung zueinander, sie kennen sich nicht. Doch wie es der Zufall will, wird Brockmann noch auf die Dienste Flemings angewiesen sein.
Der dritte Aspekt ist die Art und Weise, wie der Roman seine Geschichte erzählt: Alles ist gefiltert durch das Bewusstsein der Figuren, es gibt keine Erzählinstanz, die wie ein Märchenonkel durch die Handlung führt. Die Romanhandlung entsteht letztlich aus dem Arrangement der Wahrnehmung der Figuren, ist also hochgradig subjektiv, sprunghaft, selektiv. Gedankenströme halten sich nun einmal nicht an die Regeln von Chronologie, Kausalität, Plausibilität und Vollständigkeit. Peltzers brillante Schreibweise zieht einen derart tief in die Innensicht, dass man die geballte Masse an Komplexen, Selbstzweifeln, Verdrängungs- und Rechtfertigungsstrategien der Figuren mitbekommt. Die Rahmenhandlung ist zwar Mitte der Nullerjahre angesiedelt, doch diese Gegenwart ist vielmehr ein Tableau, auf dem sich die komplexe Gemengelage von krisenhaften Subjekten und (ihrer) Geschichte artikuliert.
Im Jahr 2011, während der Arbeit an »Das bessere Leben«, hielt Ulrich Peltzer seine Frankfurter Poetikvorlesungen unter dem Titel »Angefangen wird mittendrin«. Darin hat er beschrieben, in welchem Verhältnis ein literarischer Text zum Realen stehen sollte: »Eher ein Widerhall denn repräsentatives Bild, eher brüchige Korrespondenz denn mimetische Gesamtschau, eher das Tasten nach Zusammenhängen (zwischen Paranoia und Beliebigkeit) denn ›kontemplative Geborgenheit‹ in einer so oder so stabilen Welt – wie anders ließe sich heute das Verhältnis des Realen zu einem Text beschreiben, der es zu fassen versucht.«
»Das bessere Leben« widmet sich einer Realität, die strukturell von existentiellen Krisen und Desintegrationsprozessen geprägt ist und die dennoch »so oder so« stabil ist. Die Stabilität währt aber nur so lange, wie es ihr gelingt, auch den Zufall nutzbar zu machen.
Peltzer rettet mit seinem grandiosen Roman die Vorstellung, dass wir den Zufall, das Ereignis brauchen, dass wir ihn auch für eine andere, für eine subversive Erzählung anwenden können. Und damit entwirft er nicht weniger als eine Ästhetik des Widerstands für das gerade begonnene 21. Jahrhundert.

Ulrich Peltzer: Das bessere Leben. S. Fischer-Verlag, Frankfurt 2015, 448 Seiten, 22,99  Euro