Rationalisierungsversuche der öffentlichen Büchereien

Im Zweifel für die Masse

Rationalisierung, Outsourcing, Leiharbeit – was an der Zentral- und Landesbibliothek Berlin geschieht, ist typisch für die Entwicklung der öffentlichen Büchereien in Deutschland. Bestandsvielfalt und Arbeitnehmerrechte drohen dabei auf der Strecke zu bleiben.

Demnächst könnten vier von fünf neu angeschafften Büchern der Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB) über einen privaten, gewinnorientierten Dienstleister nach Gesichtspunkten des Massengeschmacks erworben werden. Dieses Szenario jedenfalls droht, wenn die Reformpläne des ZLB-Stiftungsrates, wie sie zuletzt auf der nichtöffentlichen Sitzung vor zwei Wochen beschlossen wurden, nicht doch noch verhindert werden.
Dabei besitzen nicht viele öffentliche Bibliotheken in Deutschland einen ähnlichen Status wie die ZLB. 1995 aus der Zusammenlegung der (Westberliner) Amerika-Gedenk-Bibliothek und der (Ost-)Berliner Stadtbibliothek entstanden, gehört die ZLB heute zu den ausleihstärksten deutschen Bibliotheken und ist die meistbesuchte Kultur- und Bildungseinrichtung Berlins. Diesen ­Zuspruch verdankt sie nicht nur ihrem 3,5 Millionen Exemplare umfassenden Medienangebot, sondern auch dem Umstand, dass die ZLB wichtige Archivfunktionen erfüllt, indem sie von jedem in und über Berlin erschienenen Werk ein Pflichtexemplar sammelt.
Seit über einem Jahr wird über die Zukunft der ZLB diskutiert – intern wie extern. Der Grund dafür sind die seit Mai 2014 bekannten Pläne des Managementdirektors der Bibliothek, Volker Heller, den Bestandsaufbau an der ZLB zu reformieren. Hellers Ziel ist es, die Auswahl und den Erwerb von Medien an ein privates Dienstleistungsunternehmen auszulagern. Die bisher von internen Lektoren ausgeführte Aufgabe soll ab Januar 2016 auf Beschluss des Stiftungsrates der ZLB größtenteils von der Firma »ekz.bibliotheksservice GmbH« (ekz) in Reutlingen übernommen werden. Die ekz beliefert gegenwärtig die Hälfte aller öffentlichen Bibliotheken in Deutschland mit regalfertigen Medienpaketen, Einrichtungsgegenständen und Serviceprogrammen. Derzeit lediglich zu fünf Prozent in den Neuerwerb der ZLB eingebunden, soll sich der Anteil der ekz ab 2016 auf 80 Prozent erhöhen – 24 000 von 30 000 Büchern würden dann jährlich per sogenannter standing order von der ekz bezogen.

Der Stiftungsrat und der Managementdirektor begründen die Umstellung mit der Notwendigkeit, Personalkapazitäten freizusetzen, »mit denen nicht nur die heutigen, sondern auch die zukünftigen Aufgaben der Bibliothek erfüllt werden können«. Außerdem verweisen sie auf den betriebswirtschaftlichen Zwang, sich zukünftig stärker am »Massengeschäft« mit »besonders nachgefragten, gängigen Medien« zu orientieren, das sowohl national als auch auf der Ebene der Berliner Bezirksbibliotheken bereits mehrheitlich über die ekz organisiert wird.
Die Ende vergangenen Jahres bekannt gewordenen Pläne stießen vielfach auf Kritik. Im Juli 2015 reichten besorgte Nutzer die Petition »Rettet die ZLB!« mit über 20 000 Unterschriften beim zuständigen Abteilungsleiter Kultur der Senatsverwaltung, Konrad Schmidt-Werthern, ein, um die Umstellung zu verhindern. Stellvertretend für die Unterzeichnenden formulierte der Initiator, Eckart Müller, die Angst vor einer »Abschaffung des vielfältigen Buchbestandes der ZLB«. Da die ekz als ein auf die aktuelle Nachfrage konzentrierter Bibliotheksdienstleister weitaus weniger Bücher im Angebot hat, als die ZLB jährlich im Rahmen ihres Erwerbungsetats kauft, müsste die ZLB zukünftig etliche Medien mehrfach anschaffen, wenn sie eine Kürzung des Etats vermeiden will. Gegenwärtig schätzt der Personalrat der ZLB, dass die 24 000 von der ekz jährlich zu liefernden Bücher 10 000 Doppelexemplare beinhalten würden. Diese erweitern zwar die Verfügbarkeit einiger Medien, würden jedoch die Breite des Bestandes verringern. Anfang August legte die ekz-Rezensentin Helga Luedtke in einem Gutachten exemplarisch dar, dass nur 52 Prozent der in der ZLB verfügbaren Medien zum Thema Energiewende über die standing order der ekz geliefert worden wären.
Auf die Gefahr einer Bestandsreduzierung weist auch der Personalrat der ZLB hin. Außerdem warnt er, dass eine thematische Verschiebung des Gesamtbestandes zu erwarten sei. Die Annahme gründet sich darauf, dass die ekz ein eher naturwissenschaftlich angelegtes Bestandsprofil habe, welches sich notwendigerweise in ihren Medienpaketen ausdrücke. Demnach sei zu befürchten, dass sich der thematische Schwerpunkt der ZLB zukünftig von den Geisteswissenschaften wegbewege, was insbesondere eine Reduzierung des Angebotes in den Bereichen Philosophie, Sozialwissenschaften und Sprachen bedeuten würde. Da ein Großteil der geisteswissenschaftlichen Themen aber überdurchschnittlich von den ZLB-Nutzern ausgeliehen werde, bezweifelt der Personalrat, dass die Umstellung auf das ekz-Angebot tatsächlich die Kundenorientierung verbessern würde.
Ebenfalls hinterfragt wird das vom Managementdirektor vorgegebene Ziel der Freisetzung von Personalkapazitäten. »Gegenwärtig hat die ZLB ihr Personalbudget nicht überschritten«, teilte der zuständige Kulturstaatssekretär Tim Renner im Dezember 2014 auf eine parlamentarische Anfrage hin mit, was keinen akuten Handlungsbedarf erkennen lässt. Ebenso wenig hat Managementdirektor Heller konkretisiert, für welche Zukunftsaufgaben neue Stellen durch Streichung der Lektorenstellen geschaffen werden müssten. Kritiker wie die ehemaligen ZLB-Lektoren Peter Delin und Ursula Müller-Schüssler fürchten daher, dass die Einsparungen an der Bibliothek zunächst ohne klares Ziel einer abstrakten Rationalisierungsidee folgten. »Die geplanten Maßnahmen sind eine kulturpolitische Richtungsentscheidung gegen die ZLB, welche langfristig zu ihrer Abwicklung führen können«, schreiben sie in einer Stellungnahme. In diese Richtung weist ihrer Ansicht nach auch das Outsourcing des Einstelldienstes an der ZLB, der seit Juni 2014 in einem erheblichen Teil des Freihandbestandes durch Angestellte von Drittanbietern übernommen wird. Diese Leiharbeiter sind von der Per­sonal- und Kommunikationsstruktur der ZLB abgetrennt und werden nicht nach der üblichen Entgeltgruppe bezahlt, obwohl sie klassische bibliothekarische Arbeiten ausführen.

Die Auseinandersetzungen an der ZLB stehen im Zusammenhang mit der allgemeinen Entwicklung der deutschen Bibliothekslandschaft. Die immer stärker marktbeherrschende Stellung der ekz ist eine direkte Folge der wachsenden Rationalisierungsbestrebungen vieler Einrichtungen. Deren Wunsch nach schlanken Beständen, die sich auf das »Massengeschäft« beschränken und Sonderinteressen außen vor lassen, kommt die ekz mit ihren Angeboten nach. Dabei verbessert das Unternehmen seine Verkaufszahlen, indem es beispielsweise in den Bibliothekskatalogen neben ausgeliehenen e-books einen Button plaziert, der die Nutzer dazu anregt, das jeweilige Medium sofort direkt bei der ekz zu kaufen.
Die Konflikte der Zukunft werden sich um die Frage drehen, welches Verständnis einer öffentlichen Bibliothek sich in der komplexen Interessenlage von öffentlichen Verwaltungen, externen Dienstleistern und den Nutzern durchsetzt. Dabei steht auch zur Diskussion, wie sich Bibliotheken positionieren – als Bildungseinrichtungen oder als »Erlebnisorte«? In Berlin jedenfalls ist trotz der Entscheidung des Stiftungsrates das letzte Wort über die zukünftige Ausrichtung der ZLB noch nicht gesprochen.