wünscht sich einen populistischen Turn in der Germanistik

Körper als Metapher bei Juli Zeh oder Warum die Germanistik einen populistischen Turn braucht

Es darf wirklich keine dummen Fragen geben. Zumindest nicht für die Literaturwissenschaften. Denn nur mit ihnen werden sie wieder Bedeutung erlangen.

Der Literatur geht es ja ganz gut. Die Menschen lesen viel, kaufen Bücher und machen sie zu Bestsellern. Nur die Wissenschaft über Literatur ist in den Augen der Öffentlichkeit erlahmt: Wann drang jemals eine akademische Diskussion über Christian Kracht oder Michel Houellebecq in die Öffentlichkeit? Wann erschien das letzte Buch zu Goethe, das man gelesen haben musste? Oder welcher Nichtgermanist könnte spontan fünf Gründe für die Existenz der Germanistik nennen? Er würde vielleicht bis zwei kommen und dann ebenfalls erlahmen.
Das heißt aber nicht, dass die Wissenschaft über die Literatur nicht aktiv ist. Im Gegenteil, sie forscht und publiziert genauso viel, wie die Gegenwartsautoren dichten. Es gibt einen regen Austausch auf beinahe täglich irgendwo in Deutschland stattfindenden Konferenzen und Workshops, oft werden die Vorträge in Sammelbänden festgehalten. Auch hat sich die Germanistik nach außen geöffnet und spricht nicht mehr nur von Goethe und Schiller, editiert Fontane oder betrachtet das Werk von Thomas Mann in seinem sozialgeschichtlichen Kontext. Stattdessen wendet sie sich aufgrund unterschiedlichster thematischer Neuausrichtungen – neudeutsch »Turn« genannt – auch Themen wie Medien, Gender oder Wirtschaft zu.
Diese relativ neue interdisziplinäre Ausrichtung hat folgenden Hintergrund: Da die Gegenstände der Literaturwissenschaft Lyrik, Dramen und Romane sind, hat sie enorme Kompetenzen, die Darstellung fiktiver Welten zu interpretieren. Und da nicht nur in der Kunst, sondern auch für ethisches, politisches und ökonomisches Handeln kein absolut verbindliches Wissen mehr angenommen wird, werden auch diese Gebiete als fiktiv aufgefasst. Das bedeutet, dass man sie wie Literatur behandeln kann, um hinter das zurückgehen zu können, was diese Disziplinen selbst nicht in Frage stellen und als ihre objektive Voraussetzung betrachten. Meist geht es dann darum, sich die Konstitution ihrer Wissensordnungen anzuschauen und die Darstellungsformen dieses Wissens zu untersuchen. Dem Germanisten Joseph Vogl gelang so ein literaturwissenschaftlicher Bestseller. Er zeigte, dass die mit mathematischer Genauigkeit operierende Finanzökonomie letztendlich genauso instabil ist wie das unsichere Wissen der Literatur.
Doch diese Erfolge sind rar. Es dringt meist wenig von der germanistischen Forschung an die Öffentlichkeit, weil sich ihre Fragen und Antworten nur an Spezialisten wenden. Dagegen ist aber auch nichts einzuwenden. Es braucht ruhige Spezialisten und akademische Artisten, die feine Abweichungen sehen und auf diesen balancieren möchten, weil sie ihnen die Welt bedeuten. Damit pflegen sie unser Wissen aus der Vergangenheit und schaffen möglicherweise wichtige Grundlagen, denn ihre Gedanken von heute könnten zu den Taten von morgen (oder übermorgen) führen. Genau hier liegt aber auch das Problem der Literaturwissenschaften. Sowohl klassische Forschungsthemen wie »Die deutsche Aristophanes-Rezeption im 19. Jahrhundert« oder »Die Bibellektüre Kafkas« als auch an der Gegenwart orientierte Analysen zum »Körper als Metapher bei Juli Zeh« oder den literarischen »Schreib­weisen des Ökonomischen in der Gegenwartsliteratur« erörtern kluge Fragen, erscheinen jedoch in der Öffentlichkeit entweder als etwas von gestern (oder vorgestern) oder sie werden genauso wenig zur Kenntnis genommen, wie sich von ihnen ausgehende Veränderungen für unsere Zukunft ausmachen lassen.
Die Aufgabe der Germanistik würden die meisten sicherlich hauptsächlich in der Deutschlehrerausbildung sehen. Im Deutschunterricht sollen die Beobachtungsgabe geschärft, das Ausdrucksvermögen präzisiert sowie die Phantasie verfeinert werden und die Jugendlichen vielleicht auch noch dazu animiert werden, dass sie das, was ihnen tagtäglich in den unterschiedlichsten Medien und Situationen erzählt wird, kritisch überprüfen. Und damit ihnen die Schule das beibringen kann, müssen die Lehramtsstudenten an der Universität auf lebendiges Wissen und Diskussionen treffen, die in den Seminaren nur stattfinden, wenn die dort unterrichtenden Professoren und Dozenten forschen und ihrem eigenen Interesse – egal ob auf die Gesellschaft bezogen oder nicht – nachgehen können.
So weit ist das auch noch gut. Aber wenn wir nun wollen, dass die Literaturwissenschaften nicht nur Schreib- und Beobachtungskompetenzen in den Schulen fördern, sondern durch ihre Forschung etwas zu aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen beitragen, dann ist dies zu wenig. Die Literaturwissenschaften müssten sich neben ihrer klassischen philologischen Tätigkeit und den interdisziplinären Aufgabenstellungen ein weiteres Feld erschließen.
Was helfen könnte, wäre ein populistischer Turn in den Literaturwissenschaften. Darunter verstehe ich eine teilweise radikale Vereinfachung ihrer Fragestellungen: Sie soll nicht mehr nur das Spezielle, Kanonische oder Ruhige sondieren, sondern auch das Laute, richtig Populäre und Dümmliche. In letzterem Bereich liegen die unmittelbar gesellschaftlich relevanten Fragen verborgen.
Es sind in meinen Augen nämlich nicht nur die Literaturwissenschaften, die fragwürdig geworden sind, sondern auch unzählige andere Stichworte der Bildung und Aufklärung. An der Universität kann ich nicht selbstverständlich davon ausgehen, dass alle Studierenden die Welt kritisch befragen möchten und dafür in der Literatur nach Denkrouten suchen. An den nichtgymnasialen Schulen und auf den Lebenswegen ihrer Absolventen tritt diese Ignoranz sicherlich noch deutlicher zu Tage. Was wir deshalb brauchen, ist nicht nur eine didaktisch und medial ansprechende Vermittlung des Wissens, sondern vor allem eine Diskussion darüber, wieso wir dieses Wissen überhaupt brauchen und weitergeben. Weil man mit diesen Fragen nicht in die Höhen der akademischen Akrobatik käme, sondern einfache, ignorante und populistische Denkweisen ernst nehmen würde, nenne ich diesen Ansatz einen »populistischen Turn«.
Wieso keine Dissertation, die bei ihrer Fragestellung an einen faulen und schlechten Schüler denkt und aus dessen Perspektive herauszufinden versucht, wieso man überhaupt lesen oder fehlerfrei schreiben soll? Oder eine Forschungsgruppe, die in diesem Sinne fragt: Wieso braucht es eigentlich Phantasie und ein gutes Ausdrucksvermögen? Mit ihrer Kompetenz für das Fiktive könnten sich die Literaturwissenschaften auch mal eines Neonazis oder Pegida-Anhängers annehmen und analysieren, wie sich sein Welt- und Feindbild konstituiert. Denkbar wäre ebenfalls, dass man untersucht, was es einem unpolitischen Menschen bringt, sich politisch zu engagieren, wieso der Staat nicht foltert und was es mit dem Eindruck auf sich hat, dass »alles immer schlechter wird«.
Es geht mir aber nicht um Einführungen, Ratgeber und allgemeinverständliche Beststeller. Dieses Genre arbeitet nur scheinbar populär, da es sich nicht darum bemüht, dumme Fragen zu stellen, sondern versucht, intelligente und »richtige« Fragen so einfach wie möglich zu beantworten. Stattdessen müssten diese Bücher ihren simplifizierenden Ansatz umdrehen: dumme Fragen stellen und diese intelligent beantworten.
Mir geht es deshalb auch nicht um soziologische und kulturwissenschaftliche Milieu­studien. Diese würden nur feststellen, dass die Dümmlichen dumme Frage stellen und dann versuchen, die Ursachen dafür herauszufinden. Sie hätten aber weniger die Ambition, die Fragen zu beantworten. Stattdessen, so mein Anliegen, sollen die Methoden des akademischen Sondierens der Literatur auf den durch und durch unakademischen Alltag angewandt werden. Dieser sollte so ernst genommen werden, dass er nicht nur die Fragen der Forschung vorgibt, sondern sich auch die Antworten auf ihn und nicht auf eine akademische Metaebene beziehen. Die Ergebnisse würden stets einen Bezug zur menschlichen Banalität und Sorge haben. Beide Momente müssen nur die ihnen gemäßen Fragen stellen dürfen und eine Antwort erhalten.

Manuel Clemens studierte Kulturwissenschaften und Philosophie. 2013 wurde er an der Yale University mit ­einer Dissertation über »Das Labyrinth der ästhetischen Einsamkeit. Eine kleine Theorie der Bildung« promoviert. Derzeit ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche Sprache, Literatur und ihre Didaktik der Leuphana-Universität Lüneburg.