Die »empirische Ästhetik« ist ein neuer Trend in der Anthropologie

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Die »empirische Ästhetik«, die seit einigen Jahren in Mode ist, fusioniert Darwinismus und Kunstwissenschaft. An der kruden Anthropologie, die dabei herauskommt, finden nicht nur akademische Alphatiere Gefallen.

Wenn ein Vertreter der meist für altbacken erachteten Literaturwissenschaft es mit seiner Arbeit in die Publikationen der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) schafft, muss er sich über seine Zukunft keine Gedanken mehr machen. Wenn die Texte, mit denen ihm das gelungen ist, den Verdacht nahelegen, dass er mit dem Gedankenmachen schon lange vorher aufgehört hat, sollte das allerdings zumindest seinen Kollegen Sorge bereiten. In der dem Thema »Körperkult und Schönheitswahn« gewidmeten Ausgabe 18/2007 der von der bpb herausgegebenen Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte, deren Edito­rial kritisiert, dass »Schönheit« in der »modernen Gesellschaft«, wo »allein der Markt die Maßstäbe« setze, »machbar« geworden sei, findet sich neben Artikeln über den »Körper als kulturelle Inszenierung« und die Trinität »Schönheit – Erfolg – Macht« auch ein Aufsatz von Winfried Menninghaus. Damals am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der FU Berlin lehrend, wurde er 2013 zum Direktor des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main berufen. Der Text ist eine sozusagen im Staatsauftrag erstellte Synopsis von Thesen, die Menninghaus in seinem 2003 erschienen Buch »Das Versprechen der Schönheit« über die evolutionsbiologischen Grundlagen der Ästhetik entwickelt hat. Sie sind die wesentliche Referenz der von ihm mitbegründeten »empirischen Ästhetik«, welche seit einigen Jahren als Avantgarde einer naturwissenschaftlich aufgemotzten Kunstwissenschaft breite Anerkennung findet.
Ausgangspunkt von Menninghaus’ Überlegungen, die er 2011 in seinem Buch »Wozu Kunst?« weiterentwickelt hat, ist die von Darwin entlehnte und in die Sphäre der Ästhetik transponierte Annahme, dass »die Bevorzugung schöner vor weniger schönen Objekten ein adaptiver Mechanismus« sei, der nicht nur »die sexuelle Wahl«, sondern auch als deren Begleiterscheinung begriffene Formen ästhetischen Handelns wie Gesang und Tanz leite, die Menninghaus mit Darwin »sexuelle Ornamente« nennt. »Sexuelle Ornamente« sind demnach alles, was aus dem an sich stumpfen und naturverhafteten Akt der Paarung einen Akt der Lust macht. Die Lust ist dabei jedoch kein Selbstzweck, sondern Waffe im survival of the fittest: »Was ist der Vorteil solcher Ornamente, wenn sie oft sogar so unpraktisch sind wie das paradigmatische Pfauenrad? (…) Die sexuellen Ornamente verschaffen Vorteile bei der Konkurrenz um sexuelle Partner. Mehr noch: Gäbe es nicht sexuelle Konkurrenz, gäbe es nicht die evolutionäre Fixierung immer extremerer Körperornamente.« Dass die Körperornamente der Menschen unauffälliger sind, liegt, glaubt man Menninghaus, unter anderem daran, dass sich Menschen für Vorspiel und Ausklang der Balz mehr Zeit nehmen als Tiere, die »keine lange Phase der Werbung und des Sich-Kennenlernens durchlaufen, sondern sich in sehr kurzen Zeitfenstern für oder gegen einen Partner entscheiden«. Das »Vorführen des Federschmucks, der Gesangs-, der Tanz- und manchmal auch skurriler Baukünste« diene bei Vögeln der »sexuellen Selbstanpreisung«. Grundlegend dafür sei die konstitutionelle »Bereitschaft zur Bevorzugung überdurchschnittlicher und neuer Reize«. Als routinierter Fortpflanzungskenner resümiert Menninghaus: »Nur solche variationsfördernden Dispositionen erlauben rasche Radikalisierungen bestimmter Trends des Aussehens ebenso wie Stillstand und Umkehr evolutionärer Attraktivitätspräferenzen.« Wie man mit Geschwätz von kurzen Fenstern, durchlaufenen Phasen und stillstehenden Präferenzen zumindest bei der akademischen Selbstanpreisung die zum Denken und Sprechen begabte Konkurrenz aussticht, hat er seither hinreichend illustriert.

Dass Konkurrenz, Vorteil und Anpreisung Begriffe einer durchs Kapitalverhältnis konstituierten Gesellschaft sind und sich nicht auf die Vorvergangenheit des Menschengeschlechts übertragen lassen – diesen Einwand würde Menninghaus, der darauf Wert legt, »ohne jede Beteiligung intentionalen Handelns« ablaufende Prozesse zu beschreiben, wohl leicht wegstecken. Doch dabei bleibt nicht nur die Frage unbeantwortet, wann im Prozess der Evolution Intentionen aufkommen und welchen Stellenwert sie haben. Vielmehr wird durch Beschwörung »der Evolution« als überhistorischem Prozess ein Wortschleim erzeugt, der den Widerspruch zwischen Natur- und Menschheitsgeschichte im Namen einer Naturkunde zukleistert, die den Menschen nur als evolutives Anhängsel kennt. Es sind denn auch genuin zivilisatorische Verkehrsformen, die Menninghaus ganz im Sinne der Diffamierung von »Körperkult und Schönheitswahn« als Regression in ein instinkthaftes Verhalten abqualifiziert. Wenn die Menschen anders als die Tiere nicht mehr direkt »sexueller ›Wahl‹ nach Aussehenspräferenzen« unterliegen, verdanken sie das Menninghaus zufolge nicht der Zivilisation, sondern der »Kultur«, die sie der Kuratel von Clans, Cliquen und anderen Zwangskollektiven unterstellt und so vom Naturzwang befreit habe: »Kultur hat die bei den Tieren verbreitete Schönheitswahl weitgehend entmachtet. Abgesprochene Heiraten, Frauentausch zwischen Clans, Familienallianzen, Religionszugehörigkeit und soziale Standesrücksichten sorgten dafür, dass reine Aussehenspräferenzen weitaus weniger partnerwahlbestimmend waren als bei den meisten Tieren.« Männer, die sich bei der Wahl ihres Weibchens an Kopftuch oder Burka halten und denen Gesichtszüge, Gestus, Frisur und andere »Aussehenspräferenzen« wurscht sind, bezeugen also ihre Zugehörigkeit zur »Kultur« und die Überwindung des Naturzwangs.

Wer sich dagegen in die Unverwechselbarkeit ­eines Gesichts oder den Reiz eines Lächelns verliebt, ist im Partnerwahlverhalten der Tierwelt befangen, für das bei Menninghaus nicht zufällig der Pfau als Sinnbild von Hybris und Prahlerei steht. Die Zivilisation, die die Mode hervorgebracht hat, zu der Embleme kultureller Hordenzugehörigkeit wie das Kopftuch eben nicht gehören, ist für Menninghaus deshalb der ärgste Feind wahrer Kultur. Seit dem frühen 19. Jahrhundert verlören »traditionelle soziale Determinanten der Partnerwahl« leider »immer mehr an Bedeutung«: Das »individuelle ›Gefallen‹ gewinnt komplementär an Macht – und damit (…) auch die Orientierung an Aussehensvorzügen. Die ›Mode‹ (…) beerbt die traditionellen Codes für Partnerpräferenzen (Religion, Familie, Stand usw.). In einer Welt, die zunehmend alle sozialen Rahmungen verzehrt, stehen die ›obdachlosen‹ Individuen nur noch als abstrakte einzelne Körper da – und suchen und finden eine Art Religionsersatz am Sosein des Körpers selbst. Diese Entwicklung kann als Rückkehr in die Zeiten tierischer Schönheitswahl gedeutet werden.« Dass die Menschen in einer Welt mit intakten »sozialen Rahmungen« viel unmittelbarer »abstrakte einzelne Körper«, nämlich dem gewaltförmigen Zugriff ihrer Clanangehörigen ausgesetzt sind als in der transzendental obdachlosen Moderne, kommt einem, der Mode als Symptom von Vertierung deutet, nicht in den Sinn. Stattdessen werden Hausweisheiten wie die, dass galante Herren eitle Pfauen und Frauen, die sich fürs Ausgehen hübsch machen, leicht zu haben seien, zu wissenschaftlichen Erkenntnissen geadelt.
Möglich wird dieser Humbug durch Anthropologisierung des Begriffs der Konkurrenz, die das Paarungsverhalten der Tierwelt nach Maßgabe wertvermittelter Vergesellschaftung deutet, es aber auch erlaubt, Erscheinungsformen »marktförmiger Konkurrenz« und deren Niederschlag in der psychischen Konstitution der Individuen als Befangensein im Naturverhältnis misszuverstehen. So erscheint die Einfrierung der Konkurrenz in einer von unmittelbarer Verfügungswalt beherrschten Gesellschaft als das Einzige, was im Namen der »Kultur« über das Naturverhältnis hinausweist, während die Orientierung am »individuellen Gefallen« als Regression gilt. Solche Verkehrung zeugt von einem Ressentiment nicht nur gegen die Zivilisation, sondern auch gegen die Natur, der die Menschen als der ersten Natur entsprungene Naturwesen ebenso wie die Tiere angehören. Es liegt sogar nahe, zu vermuten, dass sich in der von Darwin beobachteten Neigung der Tiere, sich bei der Partnerwahl an »sexuellen Ornamenten« zu orientieren – im überschüssigen Moment ihres Werbungs- und Paarungsverhaltens – ein Impuls regt, der die Immanenz der Tierwelt auf die Menschenwelt hin transzendiert; dass die fortbestehende Schranke zwischen beiden nicht absolut ist. Zivilisation wäre dann zu bestimmen als Entfaltung jenes Sinns für freie Individualität, und »Kultur« nach dem Geschmack von Menninghaus der Feind sowohl von Natur wie Zivilisation.

Statt die eigenen Begriffe zu reflektieren, pflegt die »empirische Ästhetik« in ihrem Bedürfnis nach positiv abgesicherten Grundlagen aber einen Biologismus, der hinter die philosophische Anthropologie eines Gehlen oder Plessner zurückfällt, denen die Differenz zwischen Natur- und Menschheitsgeschichte stets gegenwärtig blieb. Da werden mittels Elektroenzephalographie, Psychometrie und Eyetracking »die neu­robiologischen Grundlagen von Sprache, auditiver Kognition und Musik, einschließlich der ästhetischen Dimensionen« untersucht, da sollen, meldet das Max-Planck-Institut, »die neuronale Signatur ästhetischer Sprachprozessierung« dechiffriert und die »ästhetischen Wirkungen einzelner rhetorischer und poetischer Formen auf Konstanz vs. Kontextsensivität« getestet werden. Aus der Naturwissenschaft entlehnte Verfahren halten dafür her, Objektivität und »materialistische« Fundierung vorzugaukeln, wo sich in Wahrheit immer schamloser der pure Aberglaube austobt.
Nicht zufällig nennt Menninghaus im Interview mit Cicero vom März 2014 als ein Motiv für die Gründung des neuen »Fachs« das Ungenügen der Literaturwissenschaft, die nicht erklären könne, »was den Reiz eines Stils ausmacht«: Sie kann es nur dann nicht, wenn als »Erklärung« allein die empirische Fundierung im natural gedachten Objekt ohne Vermittlung durchs Denken gilt. Der »Reiz«, den ein Kunstwerk auf den Betrachter, und der »Reiz«, den ein Mensch auf einen anderen ausübt, konvergieren darin, dass in ihnen der Geist seiner selbst als Naturentsprun­genes innewird. Der Schauer, der ästhetische wie erotische Erfahrung grundiert, ist die leibhafte ­Erfahrung dieses Innewerdens. Die »empirische Ästhetik« aber hat den Geist ebenso wie den Leib ausgetrieben und kennt nur noch Deckbilder absoluter Herrschaft über beide: erbbiologische Determinanten, neurologische Impulse, behavioristische Reiz-Reaktions-Schemata. Immerhin kann man nach Absolvierung solcher Hirnwäsche, ohne Sanktionen der scientific community zu fürchten, Weisheiten absondern, die noch Bravo-Redakteuren zu schal wären: »Herausragend attraktive Schülerinnen, so das Resultat ­einer Langzeitstudie, fühlten sich 20 Jahre später im Durchschnitt weniger glücklich als ihre ehemaligen Mitschülerinnen. Die Lebensläufe von Filmstars und Models sind reich an Beispielen für den Konflikt von Schönheit und persönlicher ›happiness‹. Etliche Philosophen und Psychoanalytiker diagnostizieren einen kausalen Zusammenhang von herausragender Schönheit (…) und langfristiger Vereinsamung, Depression und Verzweiflung.« Die Begehrten sind die Einsamen, die Bescheidenen die Zufriedenen: Wer ­angesichts solcher Sprüche an der Welt verzweifelt, kann sich zumindest damit trösten, vor 20 Jahren ein hübsches Ding gewesen zu sein.