Antisemitismus und der 11. September

9/11 was an inside schmock

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Dieser verschwörungsideologischen Szene war sofort klar, was sich am 11. September 2001 ereignet hatte: Der geheime Plan der Weltelite zur Bildung einer Neuen Weltordnung (NWO) war in eine neue Phase überführt worden. So wurde aus 9/11 ein Baustein in einer Weltsicht, die mit der circa 100 Jahre alten antisemitischen Fiktion der »Protokollen der Weisen von Zion« begann. In diesen wurde einer imaginierten geheimen Gruppe von Juden unterstellt, durch Täuschung, Betrügerei, Umerziehung, Terror und andere »böse« Machenschaften eine autoritäre Weltregierung zu errichten. Die »Protokolle« reihen sich damit in eine lange Tradition antisemitischer Narrative ein. 9/11 also – der neuste Coup der USA, Israels, der NWO, der »Juden«. Umgehend widmeten sich Privatermittlerinnen und Privatermittler der umfassenden Aufklärung dieser Ungeheuerlichkeiten.

Da die antisemitische Interpretation der Ereignisse bereits von vornherein festgeschrieben war und Israel als Profiteur ausgemacht wurde, sezierten die Detektive und Detektivinnen konsequenterweise den Anteil jüdischer Toter in den beiden WTC-Gebäuden. Das Gerücht, jüdische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seien vor den Anschlägen gewarnt worden, verbreitete sich blitzschnell im Netz. Langsam machte auch die Erzählung vom »inside job« die Runde, also der mutwilligen Herbeiführung der Terroranschläge durch die CIA beziehungsweise den Mossad. In der Erzählung »9/11 was an inside job« mischten sich Ungeklärtes, Pseudofakten und Pseudoexpertisen mit falschen Kausalzusammenhängen, spekulativen Videoanalysen, tendenziösen Graphiken und antisemitischen Verschwörungsmythen. Diese und andere »wahre« Hintergründe der Anschläge wurden im Internet massenhaft produziert und von Verschwörungsfans verbreitet, bewundert und weiterentwickelt. Zu dieser Zeit aufkommende Videoplattformen wie Youtube ermöglichten schon sehr früh einen Massenaustausch, der über reine Texte hinausging.

Jede und jeder hatte schon damals die Möglichkeit, eine riesige Reichweite zu erzielen, was vielen Macherinnen und Machern verschwörungsideologischer Videos zu 9/11 gelang. In Deutschland bildete sich schnell eine Szene von Verschwörungsideologinnenen und -ideologen, die sich einfach in die antisemitischen Narrative deutscher Kultur einreihte. In der Erzählung von der Weltverschwörung tritt für die Deutschen sogar noch ein besonderer Aspekt hinzu: Wenn fremde Mächte seit Jahrhunderten die Geschicke der Welt steuern, können Nationalsozialismus und die Shoah nicht in die deutsche Verantwortung fallen. Durch die Erzählung von der »jüdischen Weltverschwörung« wird die Schuldumkehr vervollständigt. Heraus kommen als wahre Opfer des Weltgeschehens: die Deutschen.