Repression vor den Wahlen in Ägypten

Wählen im Orwellschen Staat

Die ägyptische Regierung hat noch für dieses Jahr Wahlen angekündigt. Derweil geht sie gegen Islamisten, säkulare Oppositionelle und missliebige Journalisten vor.

Nach zwei Jahren repressiver Politik gegenüber Oppositionellen aus allen politischen Lagern kündigte Ägyptens Regierung vor kurzem Parlamentswahlen an. Die Wahlen sollen im Oktober und November dieses Jahres stattfinden; bis Ende des Jahres soll das Land wieder ein gewähltes Parlament haben. Es wären die ersten Parlamentswahlen, seit der höchste Gerichtshof im Juni 2012 das nach dem Sturz des autoritären Präsidenten Hosni Mubarak frei gewählte Parlament aufgelöst hatte. Im Majlis Shaab (»Volksversammlung«) genannten ägyptischen Parlament stellte die Partei der Muslimbrüder mit rund 40 Prozent der Abgeordneten die größte Fraktion. Sie und die salafistische Partei al-Nour hatten bei dieser ersten Wahl nach Mubaraks Sturz zusammen mehr als die Hälfte der Stimmen erhalten.
Die nun vorgesehenen Wahlen sind Teil der road map von Präsident Abd al-Fattah al-Sisi und hätten dem ursprünglichen Plan zufolge bereits im vergangenen Jahr stattfinden sollen. Der erste Schritt der road map war das Verfassungsreferendum im Januar 2014, in dem Ägyptens neue Regierung die von ihr vorgenommenen Verfassungsänderungen absegnen ließ. Die spektakuläre Zustimmungsrate von 98 Prozent war allerdings irreführend: Die Gegner der Verfassungsänderungen erklärten den Prozess für illegitim und boykottierten das Referendum. Wegen der geringen Beteiligung ließ die Regierung die Abstimmungsphase um einige Tage verlängern, um zumindest auf eine Wahlbeteiligung von letztlich 39 Prozent zu kommen.
Im zweiten Schritt der road map ließ sich der ehemalige General al-Sisi im Mai 2014 zum Präsidenten wählen. Nach der Verhaftung oder Disqualifizierung etlicher Kandidaten aus dem islamistischen Lager war der Linksnasserist Ham­deen Sabahi der einzige Kandidat, der bereit war, gegen al-Sisi anzutreten. Ein großer Teil der Regierungsgegner bezeichnete die Wahl als Farce und rief erneut zum Boykott auf. Bei einer Wahlbeteiligung von 47 Prozent erhielt al-Sisi 97 Prozent der Stimmen.

In der nun angekündigten Wahl sollen Parteien sowie unabhängige Kandidaten zugelassen sein. Einige hochrangige Funktionäre des alten Regimes arbeiten an einer Rückkehr in die Politik. Der bekannteste unter ihnen ist Ahmed Ezz, ein Stahlmagnat, der zu Zeiten des Mubarak-Regimes dem Haushaltskomitee der alten Staatspartei NDP vorstand.
Ezz wurde 2012 wegen Korruption und Geldwäsche zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, doch ein Berufungsgericht hat die Strafe vor kurzem aufgehoben. Noch im Februar dieses Jahres entschied ein Gericht in Ezz’ altem Wahlkreis im Nildelta, seine Kandidatur nicht zuzulassen, doch die derzeitige Wahlkommission kündigte an, seine Kandidatur erneut zu prüfen. Ezz hatte mit den Worten protestiert, seine Disqualifizierung verstoße »gegen die Werte der Revolution« – ein Beispiel dafür, wie sehr die Bezugnahme auf den Umsturz vom Februar 2011 zu einer Worthülse geworden ist, die von allen politischen Lagern verwendet wird; selbst von Personen, die ehemals dem engsten Kreis des alten Regimes angehörten.
Ezz steht für viele Ägypterinnen und Ägypter nach wie vor für die Korruption und Misswirtschaft des alten Regimes. Seine Rückkehr in die Politik ist vielleicht das schillerndste Beispiel für die Rehabilitierung der Loyalisten des Regimes, die 2011 und 2012 noch abwertend fulul genannt wurden (vom Wort für »Seilschaften«).
Vergangenen Monat rückte Ezz der neuen Macht noch etwas näher: Er zählte zu den Haupt­sponsoren bei der Eröffnungsfeier der zweiten Fahrrinne des Suez-Kanals. Ihr Bau war eines der Prestigeprojekte von Präsident al-Sisi. Um den Bau zu finanzieren, hatte die Regierung Anleihen in Höhe von 8,5 Milliarden US-Dollar ausgegeben, die innerhalb einer Woche vergriffen waren. Mitglieder der ägyptischen Regierung feierten die zügige Fertigstellung der zweiten Fahrrinne als »Symbol des neuen Ägypten« und als »Wieder­geburt des Landes«. Kritiker monieren, dass die Baukosten besser in Infrastruktur, öffentlichen Nahverkehr, neue Kraftwerke und erschwingliche Wohnungen investiert worden wären.

Während sich verschiedene Kandidaten und politische Strömungen für den Wahlkampf in Position bringen, scheint eine Unterschriftenkampagne für ein Verbot religiöser Parteien an Zugkraft zu gewinnen. Die Kampagne »Nein zu religiösen Parteien« hat sich zum Ziel gesetzt, 25 Millionen Unterschriften zu sammeln, um das Verbot religiöser Parteien rechtlich durchzusetzen. Der Koordinator der Kampagne, Mohammed al-Houty, verweist auf Artikel 74 der ägyptischen Verfassung, wonach »die Bildung von politischen Parteien auf der Basis von Religion oder der Diskriminierung anhand von Geschlecht oder Ethnie« verboten ist.
Die Kampagne hat vor allem die Parteien der Salafisten im Visier. Al-Houthy wirft den islamistischen Parteien vor, offen für die Einführung der Sharia einzutreten und eine konfessionelle und vor allem gegenüber Frauen und Christen diskriminierende Programmatik zu vertreten. Die größte unter den salafistischen Parteien ist al-Nour, die vorübergehend als Alliierte der Muslimbruderschaft galt, sich nach der Machtübernahme des Militärs aber auf die Seite der neuen Regierung stellte. Trotz ihrer betonten Loyalität wirft al-Houty der Partei mangelnde nationale Verlässlichkeit vor, beispielsweise stünden ihre Mitglieder während des Singens der Nationalhymne nicht auf.
Verbreitet war nach der Machtübernahme des Militärs auch der Vorwurf gegen die Muslimbrüder, als Organisation mit Ablegern in vielen Ländern eine antinationale Ideologie zu verfolgen und letztlich ein Kalifat anzustreben. Die Extremisten des sogenannten Islamischen Staats (IS), die im Sommer vorigen Jahres medienwirksam die Grenzzäune zwischen Syrien und dem Irak mit Baggern niederwalzten, dienten vielen Vertretern dieser These als Bestätigung, auch wenn der IS und die ägyptischen Muslimbrüder wenig miteinander gemein haben.
Doch in der Rhetorik der ägyptischen Regierung und ihrer Unterstützer existiert diese Unterscheidung nicht – als Staatsfeind und potentieller Terrorist gilt jeder, der oppositionelle Positionen vertritt. Ein Beispiel dafür ist, dass die Organisatoren der Kampagne auch die Partei »Starkes Ägypten« von Abd al-Moneim Abou al-Fotouh auf ihre schwarze Liste gesetzt haben.
Fotouh war langjähriges Mitglied der Muslimbrüder, doch trennte er sich nach dem Sturz Mubaraks von der islamistischen Bewegung. Er wurde bekannt dafür, unkonventionelle Positionen zu vertreten, die nicht den politischen Lagern entsprachen, die sich nach dem Sturz Mubaraks herausbildeten. Dadurch zog er nicht nur sogenannte moderate Islamisten an, sondern auch einen beträchtlichen Teil der jungen Generation, die erst durch die Revolution politisiert worden war. In den vergangenen zwei Jahren wurde ­seine Partei zum Sammelbecken verschiedener oppositioneller Haltungen gegenüber der neuen ägyptischen Regierung – was ihr von Seiten der Unterstützer der Regierung den Vorwurf einbrachte, Terrorismus zu unterstützen.
Es ist davon auszugehen, dass die Unterschriften-Kampagne nicht nur von Unterstützern der Regierung, sondern auch von vielen Anhängern linker und liberaler Gruppen mitgetragen wird. Doch trotz ihrer Betonung liberaler Werte, welche die religiösen Parteien gefährdeten, ist sie auch ein Symptom dafür, dass in Ägypten derzeit die dominante politische Alternative zu den Islamisten der paranoide Nationalismus ist, der von der Regierung gefördert wird.
Politische Strömungen, die versuchen, ein »drittes Lager« zwischen Regierung und Islamisten zu etablieren, haben in der aufgeladenen Stimmung im Land kaum Raum, sich zu entfalten, weil alle Kritiker der Regierung pauschal mit dem Vorwurf der Staatsfeindschaft überzogen werden. Das im August von der Regierung erlassene Antiterrorgesetz spiegelt wider, mit welcher Vehemenz die Regierung mittlerweile versucht, abweichende Meinungen gar nicht mehr in den öffentlichen Raum vordringen zu lassen.
Der Gesetzesentwurf wurde propagiert, nachdem militante Islamisten Anfang Juli versucht hatten, die zweitgrößte Stadt des Nordsinai, Sheikh Zuweid, unter ihre Kontrolle zu bringen. Den Gefechten fielen rund 100 Menschen zum Opfer, es waren die heftigsten Kämpfe auf der Halbinsel seit dem Yom-Kippur-Krieg 1973. Nach den Kämpfen verhängte die Armee eine Nachrichtensperre aus dem Nordsinai. Mit der neuen Antiterrorgesetzgebung soll Regierung und Armee ein Monopol in der Berichterstattung gesichert werden. Journalisten, die Berichte verbreiten, die jenen der Armee widersprechen, können zu Geldstrafen von umgerechnet bis zu 50 000 Euro verurteilt werden – was für die meisten das Ende ihrer Karriere bedeuten würde.
Der Generalsekretär von »Reporter ohne Grenzen«, Christophe Deloire, sagt dazu: »Ägypten nimmt Kurs auf eine Orwellsche Welt, in der nur die Regierung die Erlaubnis hat zu sagen, was passiert. Selbst in Ländern, in denen die Pressefreiheit stark eingeschränkt ist, gibt es kaum Gesetze, die so massiv versuchen, die Informationsströme zu kontrollieren.«