Die ungarische Regierung nutzt die Gelegenheit für rechte Stimmungsmache

Kein Land zum Bleiben

Ausgerechnet Ungarn, wo die rechte Fidesz-Partei regiert, wird zum Transitland innerhalb der EU. Die Grenze zu Serbien ist mittlerweile geschlossen. Fremdenfeindliche Ressentiments und eine autoritäre Asylpolitik stören den Willkommensdiskurs der Europäischen Union. In der Sache erfäht Orbán jedoch Unterstützung für sein Vorgehen.

Die Bilder des Flüchtlingscamps am Budapester Keleti-Bahnhof und die Trecks auf den Autobahnen haben sich eingebrannt. Die humanitäre Katastrophe in Ungarn ist in den vergangenen Wochen zum Sinnbild für das Schicksal Hunderttausender an den europäischen Außengrenzen geworden. Die Lage ist derart in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, dass sich nunmehr das La-bel »Ungarn-Flüchtlinge« für jene etabliert hat, die auf der Westbalkanroute vor den Konflikten in Syrien, Afghanistan und dem Irak fliehen. Für die beiden südungarischen Bezirke Bacs-Kiskun und Csongrad wurde am Dienstag der Krisenzustand ausgerufen. Dort soll die Polizei erweiterte Befugnisse erhalten.
Einer der gefährlichsten Abschnitte der Westbalkanroute beginnt mit dem nunmehr geschlossenen Grenzübergang zwischen Serbien und Ungarn, nahe der Stadt Röszke. Die Menschen kommen in ein Land, in dem sie nicht bleiben wollen, ein Land, das sie nicht will, in dem sie aber aufgrund von EU-Regularien bleiben sollen. Zahlreiche Flüchtlinge werden hier von der ungarischen Polizei festgehalten und in überfüllte Camps gebracht, später per Fingerabdruck als Asylsuchende registriert. In den Internierungslagern können sie bis zu sechs Monate festgehalten werden. »Es gab nur zwei Mahlzeiten pro Tag, sie steckten uns mit zehn anderen Familien in eine Sammelzelle«, beschrieb eine syrische Familie der Jungle World die Zustände, derentwegen die ungarische Regierung auch vom ­UNHCR scharf kritisiert wird. Wehren sich die Flüchtlinge gegen solche Maßnahmen und verweigern sie den Asylantrag in Ungarn, erfolgt die unmittelbare Abschiebung nach Serbien.
Für jene, die so registriert wurden, ist die Chance auf politische Anerkennung und gesellschaftliche Integration gering. Eine Integration in Ungarn ist nicht gewünscht, folglich gibt es auch keine Hilfen. Von Seiten der ungarischen Regierung und weiten Teilen der Gesellschaft schlägt ihnen Misstrauen und offener Hass entgegen. Daher, und auch aufgrund der Regularien des Dublin-Abkommens, versuchen viele der Registrierung in Ungarn zu entgehen und das Land illegal zu durchreisen. Insbesondere für Familien sind die tagelangen Fußmärsche oder die Fahrten mit Schleuser-LKWs eine Tortur. Bisher wurde das illegale Reisen von der ungarischen Regierung geduldet. Die Hoffnung: Die Flüchtlinge verlassen Ungarn wieder in Richtung ihres Ziellandes. Eine klare Verletzung des Dublin-Abkommens und Streitpunkt zwischen Ungarn und Österreich. Als die nördlichen Anrainerstaaten auf Durchsetzung von Grenzkontrollen pochten, entstanden »Flaschenhälse« an den Verkehrsknotenpunkten, wie etwa in Keleti. »Die Situation ist unbeschreiblich. In manchen Camps leben bis zu 300 Familien, es sind die größten in ganz Ungarn und sie werden nur von Freiwilligen betreut«, sagt Tamas Lederer, der die Tätigkeiten der Facebook-Initiative Migration Aid am Budapester Keleti-Bahnhof koordiniert.

Angesichts der Bilder der Flüchtlingskatastrophe in Ungarn entstand der Eindruck, das Land würde im Chaos versinken. Doch viele der Probleme sind hausgemacht und wurden teilweise bewusst durch die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán herbeigeführt. Die regierende rechtskonservative Fidesz-Partei verfolgt mit ihren Maßnahmen der Repression und Nichteinhaltung von Verträgen eine Strategie gegenüber den Flüchtlingen, der EU und auch der eigenen Bevölkerung. Denn angesichts einer vermeintlich außerordentlichen Lage sieht sich die ungarische Regierung gefordert, außerordentliche Maßnahmen zu ergreifen. »Die Aufnahmekapazitäten in den Lagern wurden moderat gehalten. Zur gleichen Zeit wird die Abschreckung von Flüchtlingen durch den Bau eines vier Meter hohen Grenzzauns und die Implementierung drakonischer Gesetze verschärft«, bewertet Roeland Termote, Osteuropa-Korrepondent des niederländischen NRC Handelsblad, die gegenwärtige Situation. Zu den Abschreckungsmaßnahmen gehört auch ein neues Notstandsgesetz, das gegenwärtig im ungarischen Parlament diskutiert wird. Ein Abnicken des Entwurfs durch eine Mehrheit aus dem konservativen Regierungslager und rechtsextremer Jobbik-Opposition gilt als sicher. Eine Umsetzung seit dem 15. September legitimiert den Einsatz der Armee im Grenzgebiet im Rahmen eines Ausnahmezustands. Ein illegaler Grenzübertritt soll bald mit mehreren Jahren Gefängnisstrafe geahndet werden. Geflüchtete sollen zudem in einem Grenzgebiet (sogenannte Transitzone) interniert werden, von dem eine Weiterreise durch Ungarn nicht möglich sein wird.

Für diese Maßnahmen und angesichts der humanitären Lage der Flüchtlinge hagelte es zwar Kritik von Seiten der europäischen Öffentlichkeit. Der Aufbau des gigantischen Zauns an der Grenze zu Serbien wird jedoch durch die Europäische Grenzagentur Frontex begleitet. Zudem ist nicht die Art der Unterbringung der Flüchtlinge der Hauptstreitpunkt zwischen Orbán und Angela Merkel sowie dem österreichischem Bundeskanzler Werner Faymann. Vielmehr erzeugt die beabsichtigte Nichtregistrierung von Asylsuchenden in Ungarn und deren illegale Weiterreise nach Österreich und Deutschland Ärger in Wien und Berlin. Orbán habe sich an die Regelungen des Dublin-Abkommens zu halten, wonach Asylgesuche im EU-Ersteinreiseland erfolgen müssen. Es war der Druck aus den nordwestlichen Nachbarstaaten Ungarns, der die Grenzkontrollen an Budapests Bahnhof erwirkte und die Flüchtlingstrecks auf den Autobahnen verursachte. Eine absurde Situation, in der die Flüchtlinge zum internationalen Zankapfel wurden. Die EU hält weiterhin am Dublin-Abkommen als zentralem Regelungsmechanismus europäischer Flüchtlingspolitik fest. Unterdessen präsentiert sich Orbán in Europa als Opfer. Er selbst habe sich an die Regeln gehalten, müsse jetzt die Last aber allein schultern. Seine Haltung gegenüber den Flüchtlingen passt sich ein in das europäische Regelwerk, wenn auch in einer extremen Auslegung.
Innenpolitisch ist die gegenwärtige Flüchtlingspolitik die Konsequenz von fünf Jahren Orbán-Regierung. Die Krise befeuert die extrem rechten Ressentiments gegen Ausländer, die bereits monatelang geschürt wurden. Orbáns harte Hand gegenüber den Durchreisenden ist bei der Mehrheit der Bevölkerung äußerst populär. Die Regierung hat enorme Summen für eine propagandistische Kampagne ausgegeben. Die Plakate und Orbáns hasserfüllte Slogans tragen dazu bei, dass die Flüchtlingsfeinde in Ungarn immer mehr werden. »Fidesz und Jobbik haben ein gemeinsames Ziel: Ausländer loswerden, koste es, was es wolle«, sagt Attila Ara-Kovacs, außenpolitischer Sprecher von Demokratikus Koalíció, der Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány. Neben den Flüchtlingen ist auch die linksliberale Opposition Zielscheibe von Orbáns Hetze: »Wenn die Opposition an der Macht wäre, könnte man Budapest kaum noch von London oder Paris unterscheiden«, sagte der Ministerpräsident kürzlich in einem Interview. Die Opposition sei unfähig, die Gefahren zu erkennen. »Wir sind die einzigen, die damit umgehen können.«

Die Politik der Angst und Fremdenfeindlichkeit wird auch im Straßenbild sichtbar. Es gehört in der Budapester Metro mittlerweile zum konservativen Chic, einen Mundschutz zu tragen, der die Angst vor den angeblichen Infektionskrankheiten der Migranten zum Ausdruck bringen soll. Die ungarische Gesellschaft ist polarisiert. Kaum einer hat keine Meinung zum Thema Flüchtlinge. Widerspruch gegen die Regierung gibt es jedoch selten. Selbst von jenen Liberalen, die in Umfragen angeben, Flüchtlinge aufnehmen zu wollen, möchten 78 Prozent keine Araber. Angesichts einer schwachen parlamentarischen und außerparlamentarischen Opposition gegen Orbáns Politik wird sich an der Ablehnungskultur in Ungarn so schnell nichts ändern.