Displaced Persons und Fluchtursachen

Das Paradox

Hannah Arendts Bemerkungen über »displaced persons« sind aktueller denn je.

»Keine Paradoxie zeitgenössischer Politik ist von einer bittereren Ironie erfüllt«, schrieb Hannah Arendt 1951, »als die Diskrepanz zwischen den Bemühungen wohlmeinender Idealisten, welche beharrlich Rechte als unabdingbare Menschenrechte hinstellen, deren sich nur die Bürger der blühendsten und zivilisiertesten Länder erfreuen, und der Situation der Entrechteten selbst, die sich ebenso beharrlich verschlechtert hat, bis das Internierungslager (…) zur Routinelösung des Aufenthaltsproblems der displaced persons geworden ist.« Nach Deutschland lässt nun auch Österreich seine Außengrenzen kontrollieren, um so den Zuzug von Flüchtlingen, die mehrheitlich aus Syrien kommen, zu unterbinden. Derweil warnt die Organisation Pro Asyl, Europa könne in Kürze »Internierungslager an seinen Außengrenzen« errichten. Es scheint, als wiederhole sich jene Geschichte, auf die Hannah Arendt sich in »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« bezog. Von einer Republik der Staatenlosen sprach sie angesichts der Millionen von Vertriebenen, displaced persons und Flüchtlingen, die zwischen 1918 und 1948 auf dem europäischen Kontinent herumirrten, nur um als unerwünscht von einem Land ins andere deportiert zu werden und am Ende irgendwo in einem Lager zu landen, wo sie behandelt wurden, als seien sie Verbrecher.
Wie in den dreißiger Jahren auch, handelt es sich heute bei der absoluten Mehrheit aller Flüchtlinge nicht im engeren Sinne um politisch Verfolgte, die ihr Land verlassen mussten, weil sie gegen die dortige Regierung opponiert haben. 500 000 Yeziden etwa fristen in Camps für displaced persons im Nordirak ihr Dasein, weil sie kollektiv vom »Islamischen Staat« nur wegen ihrer Religion zu Untermenschen erklärt wurden, denen Tod, erzwungene Konversion oder Sklaverei droht, geraten sie in die Hände der Jihadisten. Auch wer aus den Trümmern Aleppos oder einer anderen syrischen Stadt flieht, tut dies, weil Fassbomben alle gleichermaßen vernichten, die das Pech haben, dort zu leben. An eine Rückkehr ist unter diesen Bedingungen nicht zu denken, solange sich die Lage an Ort und Stelle nicht grundlegend ändert.
Alle Appelle an Menschenrechte und an Humanität, das stellte Arendt bereits damals fest, laufen ins Leere, sind Nationalstaaten erst mit Millionen von Flüchtlingen und Staatenlosen konfrontiert. Mit allen Mitteln verhindert werden müsse, damit nicht »die Zivilisation der gesamten Menschheit« bedroht werde, dass überhaupt erst Millionen zu Staatenlosen und Flüchtlingen werden, die dann rechtlos umherirren.
Wie bereits in den zwanziger Jahren hat sich nun Europa als dazu völlig unfähig erwiesen. Über Jahre schaute man zu, wie wenige hundert Kilometer von den europäischen Außengrenzen entfernt in Syrien eine der größten Flüchtlingskatastrophen nach Ende des Zweiten Weltkriegs entstand, und tat so, als beträfe sie nur die angrenzenden Nachbarländer.
Nun hat sie Europa mit aller Wucht erreicht. Ob Flüchtlingen nun, was zweifellos die erfreulichere Variante ist, mit Luftballons und Begrüßungskomitees oder aber mit neuen Grenzzäunen empfangen werden, in beiden Fällen drückt sich eine Hilf- und Planlosigkeit aus, auf die nun ausgerechnet syrische Oppositionelle hinweisen: »Wir kommen, nicht weil wir wollen, sondern weil uns keine andere Möglichkeit mehr bleibt.«
Diese Flucht, so der syrische Demokratieaktivist Amr al-Faham, sei teilweise auch organisiert und stelle die europäischen Regierungen, nachdem man jahrelang erfolglos an sie appelliert habe, vor die Wahl, entweder mit einer wachsenden Zahl von Flüchtlingen konfrontiert zu werden, die kommen, was immer man auch gegen sie unternehmen mag, oder »den Krieg beenden zu helfen und gegen die beiden Wurzeln des Übels, das Assad-Regime und den IS, vorzugehen«.
Dass Flüchtlinge damit erstmals versuchen, aus ihrem Zustand der Entrechtung und Verelendung eine politische Waffe zu schmieden, hätte auch die volle Unterstützung Hannah Arendts gefunden.