Das letzte Buch des ermordeten Ökonomen Bernard Maris

Das Unbehagen in der Ökonomie

Der Journalist und Wirtschaftswissenschaftler Bernard Maris wurde bei dem Terroranschlag auf Charlie Hebdo getötet. Er war ein guter Freund von Michel Houellebecq. In seinem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Buch analysiert er die Darstellung des Neoliberalismus im Werk von Houellebecq.

Es mag die zahllosen Kritiker des Satireblattes Charlie Hebdo zwar verwundern, aber das Blatt hatte neben den berühmten Mohammed-Karikaturen immer auch noch anderes zu bieten. Zum Beispiel eine Wirtschaftskolumne, die der Ökonomieprofessor, Journalist und Buchautor Bernard Maris unter dem Namen »Oncle Bernard« für das antiklerikale Magazin geschrieben hat, bis er zusammen mit neun anderen Redaktionsmitgliedern und Autoren bei dem islamistischen Anschlag im Januar getötet wurde.
Sein letztes zu Lebzeiten erschienenes Buch – eines von über 30 aus seiner Feder – war sicherlich nicht als abschließendes Lebens- oder Jahrhundertwerk gemeint, wohl aber als Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte über die Ökonomie. Es erschien in Frankreich im Herbst 2014, einige Wochen vor dem Anschlag. Nun gibt es auch eine deutsche Übersetzung des Werks, die vor kurzem unter dem Titel »Michel Houellebecq, Ökonom. Eine Poetik am Ende des Kapitalismus« herauskam. Maris versucht hier einen originellen Zugang zu den Wirtschaftswissenschaften, nämlich durch deren literarische Widerspielung in den Romanen des Bestsellerautors Michel Houellebecq. Es ist nicht das erste Mal, dass Maris eigene Ansätze in der Kritik der »orthodoxen Lehre«, also der wirtschaftsliberalen Ideologie im zeitgenössischen Kapitalismus, verfolgt. Er fühlte sich einerseits der von Antiautoritären gegründeten linken Satirezeitung Charlie Hebdo verbunden, übernahm andererseits den Posten eines Beraters bei der Banque de France, der französischen Zentralbank. Maris legte stets Wert auf seinen Titel als Wissenschaftler und Hochschullehrer; in den letzten Jahren unterrichtete er an der Universität Paris-VIII in Saint-Denis. Vor den Vorlesungen lieferte er sich im Frühstücksradio von France Inter Wortgefechte mit dem wirtschaftsliberalen Journalisten Dominique Seux. »Oncle Bernard« engagierte sich auch bei Attac und kandidierte bei den Parlamentswahlen 2002 für die französischen Grünen. Maris argumentierte zumeist konstruktiv, was ihm von weiter links stehenden Kritikern vorgeworfen wurde. 2012 vertrat er die Auffassung, man müsse François Hollande Zeit lassen, seinen politischen Weg zu finden. Maris war stets freundlich, er konnte aber zugleich einen frechen Tonfall anschlagen und sprach in für einen Wirtschaftswissenschaftler ungewohnten Metaphern.
Seine ökonomischen Analysen waren weniger originell. Maris kritisierte die Deregulierung und den Neoliberalismus, bekannte sich jedoch zugleich mit wachsender Deutlichkeit zum Keynesiasmus, zu dem Versuch einer Einhegung des entfesselten Kapitalismus durch politische – auch, aber nicht nur staatliche – Intervention in der Tradition von John Maynard Keynes. Diesen stellte er stets als einen Humanisten und auch Liebhaber der schönen Künste dar. In Wirklichkeit wollte Keynes in der Krisenperiode der Zwischenkriegszeit vor allen Dingen den bedrohten Kapitalismus retten. An Marx übte Maris eine ähnlich wohlfeile Kritik wie viele andere Ökonomen; sein Gedankengebäude sei historisch gescheitert. Diese Kritik legte er in einem Buch unter dem witzigen Titel »Marx, pourquoi tu m’as abandonné?« 
(Marx, warum hast du mich verlassen?) vor. Maris bezog ökologische Überlegungen in sein Denken ein und war ein Verfechter des kostenlosen Zugangs zu Gemeingütern.
»Nie zuvor«, schreibt Maris in »Michel Houellebecq, Ökonom«, war die Wirtschaft so allgegenwärtig wie zu unserer Zeit. Sie scheut nicht nur das Schweigen und verschafft sich in der Hintergrundmusik der Supermärkte oder im Lärm der nicht enden wollenden Prozession der Autos penetrant Gehör, sie erlegt sich auch bei den abgedroschenen Gassenhauern von Wachstum, Arbeitslosigkeit, Wettbewerbsfähigkeit oder Globalisierung keinerlei Zurückhaltung mehr auf. Dem gregorianischen Gesang der Börse – die Kurse steigen, die Kurse fallen – antwortet der Chor der Experten: Beschäftigung, Krise, Wachstum, Beschäftigung.
Mit dem Schriftsteller Michel Houellebecq verband ihn eine enge Freundschaft, auch wenn beide recht unterschiedliche gesellschaftliche Perspektiven einnahmen. Houellebecq erweist sich in seinen Romanen als Vordenker eines Niedergangs der Gesellschaft in den westlichen Ländern. Kommerzialisierung, aber auch Individualisierung, der Zerfall von Familienstrukturen und allgemein von menschlichen Bindungen seien für den Niedergang verantwortlich. Das Streben nach individueller Verwirklichung, das der Kapitalismus verspricht, aber auch die Postulate von 1968 führten ins Verderben. Eine Lösung gibt es bei ihm nicht. Reaktionäre, faschistische oder religiöse Heilsbewegungen werden als illusorisch verworfen.
In seinem jüngsten Roman »Unterwerfung« zeichnet Houellebecq ein von einem Muslimbruder regiertes Frankreich. Es bleibt offen, ob der Autor das von ihm beschriebene Szenario – eine Überwindung des Egoismus im Namen des Islam – als positiv oder aber als Horrorszenario betrachtet. Rassisten betrachteten das Buch als Bestätigung ihrer Warnungen vor einer »schrecklichen Überflutung« durch muslimische Einwanderer, andere Rezensenten erblickten darin eher ein Wunschszenario Houllebecqs. Er selbst spielte bei öffentlichen Auftritten bewusst mit dieser Zweideutigkeit, was manchen Beobachtern zufolge auch einem Verkaufskalkül geschuldet sein könnte. Nachdem er Anfang September jedoch verkündete, er selbst betrachte sich als »vielleicht islamophob«, hat er erstmals eine Vereindeutigung unternommen.
Bernard Maris versucht in »Michel Houellebecq, Ökonom«, das Werk seines Freundes unter dem Gesichtspunkt der Ökonomie zu interpretieren. »Wie Pascal es für eine andere schädliche und renitente Teufelsbrut getan hat, be- wahrt Houellebecq die Ökonomen vor ihrer Nichtigkeit und verschafft ihnen so viel Zeit, wie sein Werk dauert«, schreibt Maris. »Er glaubt daran, dass es von Dauer ist. Und er hat recht. Seine Geltung wird die Ideologie der Konkurrenz ebenso fortbestehen lassen, wie diejenige des Werkes von Homer die Schlachtgeräusche vor den Mauern Trojas bis heute überdauern ließ. Houellebecq erwähnt Marx, Malthus, Schumpeter, Smith, Marshall, Keynes und andere. Er erzählt von Wettbewerb, von schöpferischer Zerstörung, Produktivität, parasitärer und nützlicher Arbeit, Geld und vielem anderen mehr, und er erzählt auf bessere Weise davon als die Ökonomen, denn er ist Schriftsteller.« Maris attestiert Houllebecq dabei humanistische Motive und kontrastiert ihn dabei mit antisemitischen Schriftsteller Louis Ferdinand Céline, der zwar ebenfalls die Dekadenz beklagte, dem es Maris zufolge jedoch an Humanismus mangelte. »Die Ökonomie gehört in den Bereich des zynischen Humors«, schreibt Maris. »An Humor mangelt es Michel Houellebecq nie – ebenso wenig wie Céline –, an Zynismus hingegen gänzlich – ganz im Gegensatz zu Céline.« Und: »Doch soweit ich es einzuschätzen vermag, ist es bisher noch keinem Schriftsteller gelungen, das ökonomische Unbehagen, das unser Zeitalter vergiftet, so exakt zu erfassen, wie es Michel Houellebecq gelungen ist.« An anderer Stellt fügt er hinzu: »Und Houellebecq erklärt unmissverständlich, dass er es geradezu als eine Art Mission empfindet, den Zustand unserer Welt zu beschreiben.« »Bei Houellebecq geht es um das Leben auf Kredit, und die Verzweiflung seiner Figuren steht derjenigen der Figuren des verdrehten Arztes aus Meudon in nichts nach«, schreibt Bernard Maris im Hinblick auf Céline.
Das zentrale Thema von Houellebecq, so glaubt Maris, ist die verzweifelte Suche nach Liebe und Geborgenheit, an welcher seine Protagonisten – die zentralen Romanfiguren Houellebecqs sehen ihr Leben in der Regel in eine Katastrophe driften – jedoch immer wieder scheiterten. Es gehe um die Verzweiflung an der Vergänglichkeit des Lebens im Kapitalismus, der die Individuen, besonders durch Werbung und andere Manipulation, auf kurzfristige Reizbefriedigung trimmt: »Der Kapitalismus verspricht das ewige Leben. Das hatte Keynes, der einzige Wirtschaftswissenschaftler, dessen Name es verdient, in Erinnerung zu bleiben, ganz genau begriffen, denn für ihn besaßen Kunst und Literatur einen höheren Stellenwert als alles andere, insbesondere als die Unternehmer, die er gern verspottete (…). Der Kapitalismus richtet sich an Kinder, deren Unersättlichkeit, deren Verlangen nach ungebremstem Konsum einhergehen mit der Verneinung des Todes.«
Das Wochenmagazin Marianne, für das Maris ebenfalls regelmäßig schrieb, argumentierte in einer Rezension im Herbst vergangenes Jahres, Houllebecq sei für Maris lediglich der Vorwand gewesen, um seine eigene Kritik am derzeitigen Wirtschaftssystem vorzutragen. Maris schreibt in seinem Vorwort, die Lektüre von »Die Karte und das Gebiet« habe ihm für viele Aspekte des ökonomischen Systems die Augen geöffnet. Seine eigene Schlussfolgerung formuliert er am Ende des Bandes als Aufforderung an die Gesellschaft: »Traut euch zu sehen, was ihr seid: kleine, wohlgenährte Sklaven. Traut euch zu sehen, in welches Verderben euer Weg euch führt. Wie die Schweine in der Bibel stürzt ihr euch im Wettbewerb den Abgrund hinunter.«
Diese Kritik mag für die »wohlgenährten« Zentren des Kapitalismus vielleicht eine zutreffende Beschreibung sein, für die Länder des globalen Südens gilt sie wohl kaum.

Bernard Maris: Houellebecq, Eine Poetik am Ende des Kapitalismus. Aus dem Französischen von Bernd Wilczek. DuMont, Köln 2015, 142 Seiten, 18,99 Euro