Die Balkanroute könnte sich verschieben

Die Balkanroute verschiebt sich

Immer mehr EU-Staaten geben sich der Illusion hin, man könne die grünen Grenzen dichtmachen. Doch es gibt Möglichkeiten, die Route von Serbien nach Ungarn zu umgehen.

Alma kippt ihren zweiten Schnaps im Sartr, dem Sarajevoer Kriegstheater, und sagt so laut, dass es auch die Nachbarn am Nebentisch hören können: »Wenn die Menschen versuchen, über Bosnien in die EU zu gelangen, sind wir vorbereitet. Wir werden sie über die Grenze schmuggeln.« Sie gehört auch zu jenen Aktivisten, die seit Wochen Hilfsgüter in Sarajevo sammeln und sie zu den Geflüchteten nach Belgrad bringen. Es handelt sich hauptsächlich um Decken, Windeln, Kindernahrung, Hygieneartikel und Kinderwagen.
Noch sieht man keine Geflüchteten auf den Straßen Sarajevos. Doch weil der Weg über Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland immer schwieriger wird, könnte sich die Balkanroute rasch verschieben. Am wahrscheinlichsten ist es, dass Geflüchtete in Zukunft von Serbien aus nach Kroatien und dann weiter über Slowenien reisen. Hier besteht ein gewisses Risiko, weil im Grenzgebiet zwischen Kroatien und Serbien noch Minen liegen. Eine weitere Route könnte über Rumänien führen. Sollte die EU-Grenze zwischen Kroatien und Serbien dichtgemacht werden, könnten Geflüchtete versuchen, über Bosnien und Herzegowina nach Kroatien einzureisen. Kroatien teilt sich eine über 900 Kilometer lange Grenze mit Bosnien und Herzegowina, die bislang kaum überwacht wird. Wer die Grenze überqueren möchte, schafft das in aller Regel auch. Welche Route die Geflüchteten in Zukunft auch einschlagen werden, es ist eine Illusion zu glauben, man könne die grüne Grenze dichtmachen.

In den Ländern des westlichen Balkans stand der Begriff Transit bislang für den Übergang vom Sozialismus in die Marktwirtschaft und das Versprechen eines besseren Lebens, das für die meisten bis heute auf sich warten lässt. Nun verändert sich die Bedeutung dieses Begriffs. Transit bedeutet, dass Geflüchtete ein paar Tage durch das Land reisen, um weiter in die EU zu gelangen. Die meisten Menschen in Serbien und Mazedonien können das auch gut nachvollziehen. Schließlich versuchen auch von dort viele in die EU zu gelangen.
Im mazedonischen Gevgelija kommen bis zu 7 000 Geflüchtete am Tag an. Die Reise führt weiter nach Serbien, wo allein in diesem Jahr rund 150 000 Flüchtlinge registriert wurden. Die Reise durch Serbien führt meist durch Preševo über Belgrad nach Kanjiža an der ungarischen Grenze.
Im Schnitt befinden sich die Geflüchteten nur drei bis fünf Tage in Serbien. Das Belgrader Innenministerium befürchtet, dass sich die Aufenthaltsdauer durch die ungarische Grenzschließung verlängern könnte. Zudem möchte Ungarn ankommende Flüchtlinge nach Serbien abschieben. Der serbische Staatssekretär Nenad Ivanišević sagte am Montagabend, dass Serbien keine Geflüchteten aus Ungarn aufnehmen werde und zur Not bereit sei, Rückführungen mit Hilfe von Streitkräften zu verhindern.
Ministerpräsident Aleksandar Vučić zeigt sich den Geflüchteten gegenüber offen: »Die serbischen Behörden werden keine Zäune errichten, sondern ihren Teil der Verantwortung übernehmen.« Diese Haltung hat viele überrascht. Nachdem Vučić in Belgrad die Haare von Flüchtlingskindern streichelte, machte er aber klar, dass die Regierung rigoros gegen sogenannte »Lügenasylanten« aus Serbien selbst vorgehen werde. Der Presseagentur Tanjug zufolge wird ein Gesetz vorbereitet, laut dem Asylbewerber aus Serbien, deren Anträge in EU-Staaten nicht anerkannt worden sind und die in ihr Herkunftsland abgeschoben werden, dort künftig ohne Sozialhilfe bleiben sollen. Zwischen 2010 und 2014 stellten 71 000 serbische Bürger einen Asylantrag in Deutschland. Rund 85 Prozent von ihnen waren Roma, die in Serbien erheblicher Diskriminierung ausgesetzt sind.
Zudem forderte Vučić die deutsche Regierung auf, weniger Bargeld an Asylsuchende auszuzahlen. Im Interview mit dem Spiegel sagte er: »Diese Leute wollen weder hier bei uns noch in Deutschland arbeiten, dafür werden sie von euch mit viel Geld belohnt, irgendwann nach Serbien zurückgeschickt – und sechs Monate später probieren sie es wieder.«

Die Lage im ungarischen Röszke sorgte in Serbien für viel Unmut. Die Dokumentarfilmerin Lou Huber-Eustachi war vergangene Woche vor Ort, um die Lage festzuhalten: »Es gab jede Menge Leute, die wieder zurück nach Serbien laufen wollten und meinten, hier sei es schlimmer als in vielen Nachbarländern von Syrien. Sie wollten nochmal eine andere Route versuchen.« Reporter vor Ort konnten aufnehmen, unter welchen furchtbaren Bedingungen die Menschen zwangsuntergebracht wurden. Es kursieren diverse Videos, die »Fütterungen« und zeitweilige Einpferchung in Käfige belegen. Lou Huber-Eustachi betont im Gespräch mit der Jungle World: »Wer ankommt, möchte vor allem eines: Schnell weiter – egal wie zerstört die Leute von der Flucht bereits sind. Die regelmäßigen Ausbruchsversuche, die von den Flüchtenden trotz massiver Polizeigewalt gewagt werden, zeugen davon.« Die Lücken im Grenzzaun zu Serbien sind weitgehend wieder geschlossen, was aber nicht bedeutet, dass es derzeit unmöglich ist, ihn zu überqueren.
Österreichs Kanzler Werner Faymann ging in einem Interview mit dem Spiegel so weit, über den ungarischen Ministerpräsidenten zu sagen: »Orbán handelt unverantwortlich, wenn er jeden zum Wirtschaftsflüchtling erklärt. Er betreibt bewusst eine Politik der Abschreckung. Flüchtlinge in Züge zu stecken in dem Glauben, sie würden ganz woanders hinfahren, weckt Erinnerungen an die dunkelste Zeit unseres Kontinents.« Der österreichische Botschafter in Budapest wurde daraufhin einbestellt, man ließ ihn wissen, dass Ungarn sich diesen Vergleich nicht gefallen lasse. Es gab an anderer Stelle aber auch berechtigte Kritik an der Worten Faymanns. So erklärten jüdische Verbände in Ungarn: »Vergleiche mit dem Holocaust halten wir für ein Zeichen großer Verantwortungslosigkeit und für eine Art der Relativierung des Holocausts.« Zugleich zeigten sich die Verbände besorgt über den »immer wieder aufflammenden, oft rassistisch motivierten Hass gegen die, die nach Ungarn kommen«.

Die serbische Boulevardzeitung Blic äußerte ihren Unmut über die ungarische Regierung noch deutlicher als Faymann. Das Blatt titelte am Freitag vergangener Woche mit einem Portrait des ungarischen Ministerpräsidenten und verpasste ihm dabei ein Hitlerbärtchen, auf dem steht: »Orbán, Schande«. Im Artikel wird ihm vorgeworfen, ein »Faschist aus dem Herzen Europas zu sein«.
Auch in den anderen Ländern Mittel- und Osteuropas will man keine Geflüchteten aufnehmen. EU-Subventionen nehmen diese Länder gerne, Flüchtlinge dann doch eher nicht. Die deutsche Forderung nach Quoten wird hier als scheinheilig bezeichnet, weil es ja gerade Deutschland war, das die Verantwortungen auf Grundlage der Dublin-Verordnung jahrelang an die Länder Südeuropas verschob.
Die Geflüchteten werden sich indes weder von Mauern noch von der Aufhebung des Schengen-Abkommens von ihrem Weg abbringen lassen.