Die Bundesregierung verschärft erneut das Asylrecht

Fehlanreiz Menschenwürde

Für einige Tage waren die Grenzen Europas so offen wie lange nicht mehr. An den Bahnhöfen wurden die Schutzsuchenden mit Applaus begrüßt. Kurz darauf sind die Grenzen dichter als zuvor. Die Bundesregierung plant eine erhebliche Verschlechterung der Rechtslage für Flüchtlinge. Das ist ein Rückfall in die neunziger Jahre.

Es war fast ein bisschen wie beim Mauerfall: Erst gibt es eine Kommunikationspanne à la Schabowski, dann sind zunächst die Grenzen offen. Der Andrang war kaum zu stoppen, das Grenzregime schein nachzugebe, die Ankömmlinge, manche von ihnen mit Deutschlandfahnen und Merkel-Bildern dekoriert, ernteten bei der Ankunft Applaus und warme Gesten des Willkommens, die internationale Presse war plötzlich voll des Lobes für ein Land, in dem fast täglich Flüchtlingsheime brennen. Die Deutschen feiern ihre »Willkommenskultur« und ihre Kanzlerin, die Welt, so schien es, war zu Gast bei Freunden.
Tatsächlich waren die Grenzen Europas einige Tage so offen wie lange nicht mehr. Obschon die Flucht von der Türkei über Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn in die innereuropäischen Mitgliedstaaten lebensgefährlich bleibt und die Stacheldrahtzäune, prügelnden Polizeieinheiten und mafiösen Schleuserorganisationen nicht verschwunden sind, kommen Schutzsuchende auf der Balkan-Route zahlreicher und schneller nach Europa als bislang. In der antirassistischen-Szene spricht man bereits euphorisch vom »Sommer der Migration«.

Als dann noch ein interner Entwurf des deutschen Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) an die Presse gelangte, die ihn für beschlossene Sache hielt und verkündete, Abschiebungen im Rahmen der Dublin-III-Verordnung für syrische Flüchtlinge würden ausgesetzt, schöpften auch Tausende an Budapests Bahnhöfen festsitzende syrische Flüchtlinge Hoffnung, und die ungarischen Grenzer interpretierten die Meldungslage als willkommenes Signal, die Flüchtlinge Richtung Westen loszuwerden.
Dabei handelte es sich bei der vermeintlichen Anordnung an das BAMF um eine nichtverbindliche Leitlinie, weshalb von einer Aussetzung von Dublin III nicht die Rede sein kann. Obschon viele Abschiebungen für syrische Flüchtlinge ausgesetzt werden, handelt es sich nicht um einen Rechtsanspruch. Weiterhin drohen auch Syrern Dublin-Abschiebungen an den Rand Europas. Die Bundesregierung stand jedoch wegen der Kommunikationspanne unter Druck, so dass sie die hoffnungsfroh gestimmten Flüchtlinge passieren ließ. Die Grenzen waren erstmals wirklich so gut wie offen, sehr zum Unmut des offenbar nicht eingeweihten Koalitionspartners CSU. Der hat mittlerweile aber wieder Grund zu großer Freude: Am 6. September – zwei Tage nach dem kleinen Mauerfall – beschloss die Große Koalition ein Maßnahmenpaket, das etliche Relikte der Abschreckungspolitik der neunziger Jahre wiederbelebt. Die Lagerpflicht, die Abspeisung der kasernierten Flüchtlinge mit Sachleistungen, die Residenzpflicht – Maßnahmen der Ausgrenzung, der Stigmatisierung, der Desintegration. Es gelte, so der Beschluss, »Fehlanreize« zu beseitigen. Zahlreiche unter anderem von den Flüchtlingsprotesten der vergangenen Jahre erkämpfte Liberalisierungen werden damit ad acta gelegt. Am Sonntag dann folgt die komplette Kehrtwende: Die Bundespolizei führt wieder Kontrollen an der Grenze zu Österreich durch. Vorübergehend ruht auch der Zugverker in der Region. Das Ende der Freizügigkeit kommt abrupt. Innenminister Thomas de Maizière behauptet, den Zustrom nach Deutschland begrenzen zu müssen.