Der Hype um die deutsche Willkommenskultur

Flüchtlingskrise – ich war dabei

Die »Willkommenskultur« ist eine sehr deutsche Kultur. Beim Hype um die Solidarität mit den Flüchtlingen geht es geht meist um das kollektive Selbstbild des »guten Deutschlands«.

Sourush M. ist verdutzt. Er sitzt im Bus und bemerkt, dass eine ältere Frau ihn schon eine ganze Weile lächelnd anguckt. Als er Anstalten macht auszusteigen, bekommt seine Beobachterin feuchte Augen und sagt: »Be welcome!« Herzerwärmend. Sourush M. wurde vor über 26 Jahren in Deutschland geboren und endlich wird auch er willkommen geheißen, gerade so, als hätten die Geburtshelfer das damals vergessen. »Willkommenskultur«, das ist eine deutsche Kultur, in der Deutsche bestimmen, wann und wie sie wen willkommen heißen wollen. Die aktuelle »Willkommenskultur« ist situativ. Sie ist auf individueller Ebene, was die Ice Bucket Challenge im vergangenen Jahr war: Die Möglichkeit, zu zeigen, dass man kein Arschloch ist. Und zwar es wirklich zu zeigen: Mit Selfies vor mit Lebensmitteln gefüllten Kofferräumen, Selfies vor vollen Einkaufswagen, Selfies, auf denen man vegane Suppe verteilt. Und nicht zu vergessen: Ein Selfie mit einer Flüchtlingsfamilie, deren Kleidung und Gesichter leicht schmutzig wirken. All diese Fotos postet man dann bei Facebook, Twitter, Instagram. Allen gefällt das. Mein Social-Media-Auftritt soll mein Zeuge sein: Ich gehöre zu den Guten. 2014 heile ich ALS, 2015 bringe ich meine alte Kleidung zu Kriegsflüchtlingen und 2016 probiere ich mich vielleicht am Welthunger oder dem Klima, wer weiß. Hauptsache, es gibt ein Selfie für die gute Sache und etwas Anerkennung. Für die digitale Selbstoptimierung werden sich schnell andere Objekte finden, die weniger langweilen. Nicht Springerstiefel, wie Die Ärzte singen, sondern Selfies sind ein »Schrei nach Liebe«. Alles andere ist nur Deko. Wofür stand noch mal ALS? Die Selbstprofilierung des Einzelnen ist ein Indiz für andere Motive als Empathie. Die damit einhergehende Profilierung des Kollektivs hat die Grenze zum Grusel längst überschritten.

Wenn es um Flüchtlinge geht, geht es nämlich in den seltensten Fällen um die Flüchtlinge, sondern fast immer um Deutschland. Dieses Jahr war die internationale Presse nicht der größte Deutschland-Fan. In den Verhandlungen mit Griechenland ging das Wort »Putsch« um die Welt und auch über Pegida und Hunderte Demonstrationen vor Flüchtlingsunterkünften, bei denen Pogromstimmung in der Luft lag, war man nicht allerorts glücklich, von den Hunderten Anschlägen auf die Unterkünfte ganz zu schweigen. Immer wieder wird im Ausland auf die nationalsozialistische Vergangenheit hingewiesen, wenn die postnazistische Realität beschrieben wird. Viele zivilgesellschaftliche Helferinnen und Helfer geben offenherzig zu, dass sie ein anderes Bild von Deutschland zeigen wollen. Das Bild eines weltoffenen, humanen, edlen, moralischen Deutschlands. Ein Deutschland, auf das man stolz sein kann. Dieses Bild wird auch kollektiv gezeichnet: In Leitartikeln und Kolumnen, Facebook-Einträgen und Tweets, von Politikerinnen und Konzernchefs. Sogar Yanis Varoufakis, noch vor wenigen Monaten der in Deutschland wohl meistgehasste Finanzminister und Grieche der Welt, attestiert in der FAZ: »Europa braucht die moralische Führerschaft Deutschlands. In der Flüchtlingsfrage erleben wir sie – und sie ist ausgezeichnet.«

Manche sprechen von »Dunkeldeutschland« und meinen, dass es da noch das Gegenstück, also Helldeutschland, gebe. Sie sagen, dass sie sich für andere Deutsche (in Heidenau und anderswo) schämen, und zeigen so, dass sie sich diesen anderen Deutschen nur allzu verbunden fühlen – wenn auch negativ. Ohne Identifikation ist Scham nicht möglich. »Eine enthemmte Minderheit besudelt und beschämt unser ganzes Land«, sagt Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU). Diese negative Identifikation wird vom Vorsitzenden der SPD, Sigmar Gabriel, noch überboten: Für ihn ist der Mob, der auf die homogene Volksgemeinschaft hinarbeitet, »undeutsch«. In der Welt der Sozialdemokraten gibt es nur gute Deutsche, die Flüchtlingen helfen, und dann noch das undeutsche »Pack«, wie sie es liebevoll nennen. Die Weiterentwicklung der Extremismustheorie wird in Zukunft vielleicht von linkem undeutschen »Pack«, rechtem undeutschem »Pack« und der moralischen deutschen Mitte ausgehen. Denn das »Pack«, das sind Nestbeschmutzer. Jede Flüchtlingsunterkunft, die die Deutschen abfackeln, sorgt für einen unangenehmen Beigeschmack beim positiven Bezug aufs Deutschsein. Dieses Beigeschmacks will man sich entledigen. Die Patrioten brauchen das »Pack«, um in aller Ruhe dem Nationalstolz frönen zu können.
Während Deutsche irgendwo in Sachsen einen vermeintlichen Ausländer klatschen (oder sich gerade darauf vorbereiten), klatschen Deutsche an den Bahnhöfen, an denen Züge mit Flüchtlingen aus Ungarn ankommen, Applaus. Beide Gruppen sind stolz auf Deutschland.
Auf diese Formel lässt sich die Symbiose von rassistischer Gewalt und euphorischer Flüchtlingshilfe bringen. Ganz symptomatisch steht dafür ein Aufruf zu einem »Autocorso für Flüchtlinge«, der auf Facebook kursierte: Zu sehen sind Autos mit deutschen Flaggen und einem »Refugees Welcome«-Logo. Dass es einen Zusammenhang von Nationalstolz und der Ausgrenzung von »den anderen« gibt, will man hingegen nicht hören. Zu schön ist es, zu den moralischen Gewinnern der »Füchtlingskrise 2015« zu gehören. Die Flüchtlingspolitik und ihre Kritik sind zwischenzeitlich in den Hintergrund getreten. Die öffentliche Aufmerksamkeit liegt auf den helfenden Deutschen und den herzerwärmenden Geschichten vom guten Deutschland.
In dieser gesellschaftlichen Stimmung mit einer euphorischen Zivilgesellschaft, der es um sich selbst geht, ist kein Platz für reale Politik, die das Bild trüben könnte. Längst steht die nächste Runde der Asylrechtsverschärfungen an, Grenzkontrollen nach Österreich sind wieder eingeführt worden (siehe Thema-Seiten 3 bis 5). Den Ablauf eines Volksfestes in der bayerischen Hauptstadt sehen die Politiker zudem durch die Flüchtlinge gefährdet: Es sei gut für die Flüchtlinge, sie von diesem Volksfest fernzuhalten, weil Muslime keine betrunkenen Deutschen gewohnt seien. Wenn man ehrlich wäre, müsste man feststellen: Die meisten Flüchtlinge in Deutschland werden früher oder später die Bekanntschaft mit »betrunkenen Deutschen« machen. Zumindest ist es wahrscheinlicher, solche Bekanntschaften zu machen, als von der Kanzlerin gestreichelt zu werden. Dunkeldeutschland ist überall.

Selbstverständlich ist es nicht falsch, solidarisch mit Flüchtlingen zu sein. Doch die Motive dieser Solidarität und die Form, in der sie ausgeübt wird, sind relevant. Selbstbeweihräucherung und das Image Deutschlands sind genauso schlechte Motive wie der demographische Wandel und der Fachkräftemangel. Auch den Hinweis auf die Erfahrung mit den deutschen Vertriebenen, oftmals nationalsozialistische Täterinnen und Täter, kann man sich sparen. Genauso wie den auf die DDR-Flüchtlinge.
In einer Flugschrift aus dem Jahr 1992 steht, nach wie vor treffend: »Dieses Volk ist rassistisch, antisemitisch, revanchistisch, chauvinistisch und kulturimperialistisch, in Theorie und Praxis. Seit der Wiedervereinigung mit neuem Selbstbewusstsein ausgerüstet, diskutiert es zu Hause, am Tresen und Stammtisch, auf der Arbeit, in den Medien, im Parlament ›Lösungen‹ des ›Asylantenproblems‹ (wie sie und ihre Regierung es nennen), die vom ›soften‹ Rassismus (Multikultur) bis zum Rückgriff auf bekannte deutsche Methoden reichen. Konzentrationslager, Gaskammern, Dachau und Auschwitz sind für Deutsche keine Tabus. Diese ›Lösungen‹ sind für ganz normale Mitglieder dieser Bevölkerung möglich, denkbar und machbar. Und weil Deutschland die Durchführbarkeit von ›Endlösungen‹ praktisch bewiesen hat, wird sich das Volk seiner Traditionen immer erinnern und in ihre ›Lösungsvorschläge‹ mit einbeziehen. Dieses Vernichtungspotential im deutschen Volk begründet sich vor allem in der Ermordung der europäischen Juden.«
Die Autoren hatten begriffen, dass »Multikultur« ein Ausdruck von modernem Rassismus ist. Die derzeitige Willkommenkultur ist ein Ausdruck dieser »Multikultur«-Denkweise.