Der Germanistik mangelt es an Eigensinn

Juli Zeh kann nichts dafür

Manuel Clemens empfiehlt der Germanistik einen »populistischen Turn«, damit sie das »Populäre und Dümmliche« in den Blick nehmen kann. Dabei hat das Fach diese Wendung längst vollzogen – mit fragwürdigen Folgen.

Eine Diskussion in der Jungle World über den Zustand der Germanistik ist etwa so aussichtsreich wie eine über Gendertheorie im Bayernkurier. Aber man kann es ja versuchen, mag der Kulturwissenschaftler Manuel Clemens gedacht haben, als ihm auffiel, dass Studierende des Nachbarfachs beim Warten auf den Sprechstundentermin immer wieder mal das bunte Diskursblatt mit den frechen Kalauern auf der Titelseite lasen. Linke Publikationen, die sich nicht der Geistesfeindschaft verschrieben haben, sind hierzulande selten. Wenn sich eine von ihnen gegenüber der vermeintlich geistlosen Populärkultur trotzdem freundlich zeigt, mag sie der richtige Ort sein, um die philologischen Denkmalpfleger aufzufordern, ihre Erkenntniskräfte dem Alltag zuzuwenden. Denn trotz ihrer »beinahe täglich irgendwo in Deutschland stattfindenden Konferenzen«, so Clemens in der Jungle World, erreiche die Germanistik keine breite Öffentlichkeit: »Wann erschien das letzte Buch zu Goethe, das man gelesen haben musste? Oder welcher Nichtgermanist könnte spontan fünf Gründe für die Existenz der Germanistik nennen?«
Weil die Antwort auf solche Fragen sie in Verlegenheit bringt, empfiehlt Clemens der Germanistik einen »populistischen Turn«. Damit meint er, dass die Philologen neben ihrem Kerngeschäft, das darin bestehe, »das Spezielle, Kanonische oder Ruhige« zu sondieren, »ignorante und populistische Denkweisen ernstnehmen« müssten. Populistisch sind allerdings zunächst die Fragen, die Clemens an das Fach heranträgt: Welches neue Buch zu Goethe »man« gelesen haben muss, danach erkundigen sich nicht Laien, sondern stupid Gerissene, die vom Literaturexperten erwarten, jederzeit die frisch aktualisierte Leseliste zücken zu können. Solche Charaktere sind auch der Ansicht, dass jeder Berufsstand, für dessen Existenz der Mann von der Straße nicht »spontan fünf Gründe« aufzählen kann, liquidiert gehört. Zwar gesteht Clemens zu, es brauche »ruhige Spezialisten und akademische Artisten«, die »feine Abweichungen sehen und auf diesen balancieren möchten«. Doch abgesehen von der Frage, wie man auf einer Abweichung balanciert, zeigt der mokante Tonfall schon, dass er sich die Liebhaber des Wortes so hibbelig und immer unter Strom wünscht wie die Öffentlichkeitsarbeiter, mit denen er sie verwechselt.
Indessen hat die Germanistik die Kur, die Clemens ihr vorschlägt, längst absolviert. Clemens deutet das selbst an, wenn er zugesteht, das Fach habe sich in jüngerer Zeit »nach außen« (wohin auch sonst) »geöffnet« und widme sich nicht mehr nur Goethe, Schiller und Fontane, sondern »Themen wie Medien, Gender oder Wirtschaft«. Solche »Erfolge«, mit denen Philologen beweisen, dass sie zum gleichen interdisziplinären Gerödel fähig sind wie Clemens’ Fakultätskollegen, seien aber nach wie vor »rar«. Statt Beiträge »zu aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen« zu liefern, pflegten Germanisten eine Forschung, die sich »nur an Spezialisten« richte.
In Wahrheit bedient die Klage über das Spezialistentum kleinbürgerliche Ressentiments. Philologische Arbeiten über »Die deutsche Aristophanes-Rezeption im 19. Jahrhundert« oder »Körper als Metapher bei Juli Zeh« mögen Leuten, die etwas anderes gelernt haben, überflüssig erscheinen – ein Urteil, das in letzterem Fall vermutlich sogar zutrifft. Die Arbeitsteilung, deren Produkt sie sind, ist aber Ergebnis wissenschaftlichen Fortschritts und wird an anderen Disziplinen als den Geisteswissenschaften selten beanstandet. Arbeiten von Informatikern oder Molekularbiologen tragen oft weit seltsamere Titel, ohne dass sich jemand darüber aufregt. Auch eine linguistische Studie über »Die diatopische Dimension aphatischer Phonemartikulation« würden Wissenschaftspopulisten mit Schulterzucken quittieren, weil sie einfach daran glauben, dass die Sprachwissenschaft zu irgendetwas Nutze ist. Nur Fächer wie die Philologie und die Philosophie, die mit dem Zweckfreien zu tun haben, müssen sich ständig vor einer imaginären Bürgerversammlung rechtfertigen.
Doch die von Clemens angeführten obskuren Themen sind tatsächlich Symptom eines Problems, das er selbst freilich nicht in den Blick nimmt. Er gesteht Leuten, die sich mit »Körper als Metapher bei Juli Zeh« befassen, nämlich zu Unrecht zu, dass sie »kluge Fragen« erörterten; und er wirft ihnen zu Unrecht vor, sie würden »in der Öffentlichkeit« als »von gestern« wahrgenommen. Tatsächlich lässt sich Arbeiten der Sorte, wie Clemens sie anführt, mit guten Gründen »Klugheit« absprechen, während gerade der Mangel an geistigem Eigensinn sie in der Öffentlichkeit als Ausdruck zeitgemäßer Produktivität erscheinen lässt. Als Beispiel für eine gelungene Intervention der Germanistik in die Gesellschaft dient Clemens denn auch ausgerechnet Joseph Vogls kryptodeleuzianische Studie »Das Gespenst des Kapitals« – ein »Bestseller«, der zeige, »dass die mit mathematischer Genauigkeit operierende Finanzökonomie letztendlich genauso instabil ist wie das unsichere Wissen der Literatur«. Derlei als Erkenntnisse ausgegebene Platitüden liefern kulturwissenschaftlich benebelte Philologen der Öffentlichkeit aber seit Jahren; kaum ein Projektantrag kommt ohne sie aus. Dass das entsprechende Schema irgendwann auch auf Juli Zeh angewendet wird, gehört zu den wenigen Dingen, die man ihr nicht vorwerfen kann.
Das obskure Spezialistentum, gegen das Clemens sich wendet, existiert also, nur bezeugt es nicht, dass die Germanistik den Kontakt zum »unakademischen Alltag«, sondern, dass sie die Lust an ihrem Gegenstand verloren und daher keinen Begriff mehr von ihm hat. Clemens zeichnet das Bild eines Fachs, in dem sich jeder mit seinen abseitigen Lieblingsthemen beschäftigt und das den »Bezug zur menschlichen Banalität und Sorge« eingebüßt habe. Er stört sich also nicht am gegenstandslosen Diskursgewäsch, das die Philologien repetieren, sondern daran, dass sie, wie er zu Unrecht unterstellt, dafür bezahlt würden, sich nur mit ihren Geschmacksvorlieben zu beschäftigen. Der Wunsch, mit solcher Liebhaberei möge zugunsten von mehr Volksnähe Schluss gemacht werden, motiviert ihn, den Begriff des Populismus ausgerechnet in Verbindung mit der Germanistik affirmativ zu verwenden, von der er wissen muss, dass sie im »Dritten Reich« die volksnahe Kulturwissenschaft par excellence war. Es dauerte Jahrzehnte, bis das Fach sein populistisches Erbe reflektiert hatte. Maßgebend dafür war der 1967 von Walter Killy, Karl Otto Conrady und anderen herausgegebene Band »Germanistik – eine deutsche Wissenschaft«, in dem teilweise selbst nicht unbelastete Doyens mit der Vergangenheit ihrer Disziplin abrechneten. In dieser Zeit begann die Germanistik auch, sich populären Lesestoffen und Formen der Alltagskommunikation zuzuwenden.
Diese Revision entsprang aber keinem Relativismus, demzufolge, weil die »Welt« ein »Text« sei, sich der Literaturwissenschaftler mit der ganzen Welt beschäftigen könne, sondern einem Universalismus, der nicht einsehen wollte, warum die gleiche Akribie, die auf die Interpretation eines George-Gedichts verwendet wird, nicht auch der Analyse eines Werbeslogans zugutekommen sollte. Die Ansicht, man müsse, womit man sich da beschäftige, deshalb auch affirmieren, ging nicht damit einher. Mit solchem Universalismus hat das Fach seitdem aufgeräumt, Abhandlungen über beziehungslos partikulare Einzelfragen sind das Ergebnis. Wenn die Germanistik, wie Clemens vorschlägt, das »Populäre und Dümmliche« zu ihrem Gegenstand machen will, findet sie in den eigenen Publikationen also vorerst genügend Stoff.
Nur partizipiert Clemens selbst an dieser Entwicklung, wenn er vorschlägt, Germanisten mögen sich, statt »Phantasie« und »Ausdrucksvermögen« zu kultivieren, »eines Neonazis oder Pegida-Anhängers annehmen und analysieren, wie sich sein Welt- und Feindbild konstituiert«. Abgesehen davon, dass Soziologen so etwas besser können (Arbeitsteilung hat eben auch Vorteile), müsste eine Auseinandersetzung der Germanistik mit dem Fortleben deutscher Ideologie eher damit beginnen, nicht selbst »populistisch« sein zu wollen. Weil er eine Ahnung davon hat, spricht Clemens seltsam unentschieden mal von »Germanistik«, mal von »Literaturwissenschaft«. Aber wie immer es genannt wird: Dass »Phantasie« und »Ausdrucksvermögen« aus dem Fach getilgt wurden und es so freudlos ist wie die Wirklichkeit, der es sich angeblich verweigert, diesem Desaster kommt Clemens nicht bei. Er empfiehlt nur, es kreativ zu verwalten.