Die AfD und die Flüchtlingsdebatte

Putzmunterer Patient

Nach der Abspaltung von Bernd Luckes Alfa ist die Alternative für Deutschland (AfD) besonders in Sachsen stärker denn je. Die Ausrufung einer »Flüchtlingskrise« hat die AfD als ostdeutsche Protestpartei gestärkt.

Frauke Petry, die Vorsitzende der Alternative für Deutschland (AfD), ist weiter auf Erfolgskurs. Nach ihrem Sieg über den AfD-Mitbegründer und Europaabgeordneten Bernd Lucke steht vor allem ihr sächsischer Landesverband glänzend da. Lucke hingegen gründete nach der Spaltung der AfD im Juli die »Allianz für Fortschritt und Aufbruch« (Alfa) und führt seitdem eine politische Schattenexistenz. In Sachsen könnte die AfD einer Umfrage von »infratest dimap« zufolge bei Landtagswahlen derzeit mit 13 Prozent der Stimmen rechnen. Damit liegt sie mit der SPD gleichauf. Bundesweit liegt die AfD derzeit nur bei vier Prozent Die im permanenten Krisenmodus agierende Bundespolitik liefert der AfD nicht nur in Sachsen die Stichworte. »Asylchaos und Eurokrise stoppen« lautet derzeit der Hauptslogan der Partei. Nach der von Innenminister Thomas de Maizière (CDU) verkündeten Wiedereinführung der Grenzkontrollen hieß die Losung schlicht »AfD wirkt«.

Die Partei der »Eurokritiker« inszeniert sich gegenwärtig als basisnahe Opposition, welche besonders die Unionsparteien unter Druck setzt. Dabei leistet sich die AfD sogar originelle Angriffe auf die CSU. So forderte Max Straubinger, der parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe im Bundestag, mit den Worten »Aleppo ist nicht Damaskus« die Abschiebung von Flüchtlingen, die nicht aus unmittelbaren Kampfgebieten stammen. Das sächsische AfD-Vorstandsmitglied Jörg Urban sagte daraufhin, die CSU betreibe »hässlichen Stammtischpopulismus«. Es sei »zynisch, sichere Gebiete in einem unübersichtlichen Bürgerkrieg ausmachen zu wollen«. Derweil organisiert die AfD weiterhin Demonstrationen, auf denen die sprichwörtlich gewordenen »besorgten Bürger« und »Asylkritiker« ihren Unmut äußern können. Die AfD Brandenburg rief für den 23. September sogar zu einer Kundgebung vor dem brandburgischen Landtagsgebäude in Potsdam auf.
Der Tonfall wird dabei immer schärfer. Die »Willkommenskultur«-Rhetorik von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bietet der AfD eine willkommene Angriffsfläche. Frauke Petry beschränkt sich dabei nicht auf die Landespolitik, sondern nutzt den sächsischen Landtag als Bühne für die großen bundespolitischen Themen. Auch der brandenburgische AfD-Vorsitzende Alexander Gauland heizt mit Forderungen nach einer »Aussetzung« des Asylrechts die Stimmung an. In ihrer »Herbstoffensive 2015« forciert die AfD den bundesweiten Kampf gegen das »herrschende Asylchaos«, das die Bundespartei mit einem vierseitigen »Sofortprogramm« lösen will. Die AfD nimmt hier eine Zuspitzung ihrer bisherigen Positionen vor. Von einer »Ausweitung sicherer Herkunftsländer« und »48-Stunden-Schnellverfahren« ist da die Rede. »Asylbewerber« akzeptiert die AfD zunächst nur als notdürftig mit Sachleistungen alimentierte Bittsteller. Kernpunkt des Papiers ist die Forderung nach einer Aufhebung des Rechts, in Deutschland Asylanträge zu stellen. Diese müssten stattdessen in den deutschen Botschaften oder in den Auffangzentren unter EU- beziehungsweise ­UNHCR-Verwaltung gestellt werden. Sollte dies wegen Krieg oder Bürgerkrieg nicht möglich sein, seien die Anlaufstellen in den Nachbarländern aufzusuchen. »Asylgesuche an unseren Grenzen werden abgewiesen und eine Einreise abgelehnt«, fordert die AfD. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) kommentierte dies treffend mit dem Hinweis, dass »Szenen wie in der deutschen Botschaft in Prag 1989« die Folge sein könnten. Die Schweiz hatte ein ähnliches Modell 2012 aufgrund des großen Zulaufs wieder abgeschafft. Die AfD, deren Politiker oft vom Schweizer Modell schwärmen, lässt dies unbeeindruckt.
Kohärent waren die asylpolitischen Forderungen von Politikern der AfD bislang nicht. Noch Mitte August gab Frauke Petry die Losung aus: »Wir brauchen kein neues ›Asyl-System‹, einfach mal das Bestehende konsequent anwenden« an die Öffentlichkeit.« Der kommissarische Hamburger AfD-Landesvorsitzende Jörn Kruse verlor in einer E-Mail an Alexander Gauland wegen dessen »asylpolitischen Amoklaufs« parteitypisch die Contenance, wie die FAZ berichtete. Kruses Ausfälle gipfelten in der Frage: »Ist die politische Grenze zur NPD gefallen? Haben Sie es nötig, am rechtsradikalen Rand zu fischen?«

Bernd Luckes neue Partei Alfa bevorzugt unter Losungen wie »Hilfskultur statt Willkommenskultur« gemäßigtere Töne. Der vormals der AfD angehörende Europaabgeordnete Bernd Kölmel, inzwischen stellvertretender Bundesvorsitzende der Alfa, verfasste für die Partei ein 21 Seiten umfassendes Positionspapier, das zurückhaltender verfasst ist als das forsche »Sofortprogramm« der AfD und zudem einige Überraschungen birgt. Ausdrücklich bekennt sich die Alfa zum Recht auf Asyl und fordert eine »Unterbringung nicht an Randlagen und Armutsvierteln, sondern auch in ›gut situierten Gebieten‹«. Ob die eigene Klientel hier applaudieren wird? »Natürlich können Einzelschicksale hart sein«, heißt es angesichts der Forderung, dass nach einem negativen Verfahrensbescheid auch tatsächlich eine Abschiebung vollzogen werden solle. »Leider ist aber nur so eine stringente Verfahrensweise an potentielle Asylbewerber bzw. Flüchtlinge zu vermitteln«, so das Positionspapier.
Doch auch wenn Lucke im Interview mit dem Handelsblatt Verständnis für die Abschreckungspolitik des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán äußert, findet die Partei derzeit kaum Resonanz. Im Gegensatz zu den Landesparlamenten ist das Europaparlament eben keine wirkungsvolle Bühne. Europaabgeordnete werden in den Medien wie die B-Prominenz der Politik behandelt. Die zur Alfa gewechselten ehemaligen AfD-Mitglieder wie Joachim Starbatty oder Hans-Olaf Henkel finden kaum Resonanz. Der Alfa-Vorsitzende Lucke, der selbst während seiner inszenierten Provokationen den Habitus des Staatsbuchhalters nicht ablegen kann, wird als gescheiterte Figur des Übergangs wieder vom Plenar- zum Hörsaal wechseln müssen. Seine Alfa wird als Fußnote der deutschen Parteiengeschichte enden.

Gegenwärtig spielt die ausgerufene »Flüchtlingskrise« ebenso wie die scharfe Kritik an Bundeskanzlerin Merkel der AfD in die Hände. »Deutschland muss Deutschland bleiben«, sorgte sich nicht nur die FAZ um die Folgen der Grenzöffnungen. In dieser Situation erhält jeder Satz von Merkel eine besondere Bedeutung. Für helle Aufregung sorgte beispielsweise ein Interview der Kanzlerin mit der Rheinischen Post. Zitiert wurde vor allem Merkels Aussage, wonach das »Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte keine Obergrenze« vorsehe. Dies gelte, so Merkel, »auch für die Flüchtlinge, die aus der Hölle eines Bürgerkriegs zu uns kommen«. Die Besorgnis bei konservativen Leitartiklern oder digitalen Wutbürgern wirft bei genauer Lektüre des Interviews ein bezeichnendes Licht auf die Eigendynamik, die Merkels Stellungahmen derzeit entwickeln. Denn die Bundeskanzlerin formulierte diesen bemerkenswerten Satz keinesfalls als generöse Einladung an die Flüchtlinge aller Länder. Gemeint war er als nüchterne Antwort auf die Frage der Rheinischen Post, wie viele Flüchtlinge Deutschland »gut« aufnehmen könne. »Da kann es keine einfache Zahl als Antwort geben«, räumte Merkel angesichts fehlender Quotenregelungen vorweg ein. Doch wenige Sätze später forderte Merkel die Beschleunigung der Asylverfahren und wies darauf hin, das gerade Asylsuchende »aus sicheren Staaten, vor allem vom Balkan«, aufgrund der geringen Anerkennungsquote »rasch in ihre Länder zurückkehren« müssten. Von »offenen Grenzen« war also keine Rede.

Merkels Satz von der nicht existierenden »Obergrenze« für Asylsuchende führt nun ein Eigenleben als Leitmotiv für die neue deutsche »Willkommenskultur«. Im politischen Handgemenge gehen die Differenzierungen vollends unter. Auch Christan Wulffs Ausspruch, dass der Islam »inzwischen auch zu Deutschland« gehöre, wird häufig ohne die historische Relativierung »inzwischen auch« zitiert. Aber christdemokratische Reizfiguren wie die Kanzlerin oder der ehemalige Bundespräsident konstatieren nur den Status quo der Republik. Sie beschwören keine in die germanischen Wälder zurückreichende deutsch-islamische Traditionslinie. Angesichts von vier Millionen Muslimen in Deutschland erübrige sich der Streit, ob diese jetzt »zu Deutschland gehören und der Islam nicht, oder ob der Islam auch zu Deutschland gehört«, sagte Merkel Anfang September im Rahmen eines »Bürgerdialogs« in Bern. Aber beim Thema Islam kennt die öffentliche Erregung keine Obergrenze.
Anknüpfungspunkte für die rechtspopulistische Skandalisierung der bundespolitischen Widersprüche sind ohnehin reichlich vorhandeln. Am deutlichsten wird dies bei der interessegeleiteten Interpretation der jüngsten Einwanderungen als Rosskur für den demographischen Wandel. Denn die Akquise qualifizierten Fachpersonals stößt derzeit an enge Grenzen. Laut Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) bringt momentan nur jeder Zehnte unter den neuen Zuwanderern die Voraussetzungen mit, um direkt auf einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz vermittelt zu werden. »Der syrische Arzt ist nicht der Normalfall«, meint Nahles. Der Versuch, die neue industrielle Reservearmee als »Chance für Deutschland« zu verkaufen, wird deshalb auf ähnliche Probleme stoßen wie die Multikulti-Bereicherungsrhetorik der achtziger und neunziger Jahre. Wer nicht »nützlich« ist, verliert die Gunst von Politik und Publikum.
Auch Claudia Roth (Grüne), die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, paraphrasierte die herrschende Denkweise der Arbeitgeber und wurde rasch mit deren Fallstricken konfrontiert. »Es werden aber auch Menschen kommen, die sind nicht unmittelbar verwertbar«, sagte Roth in der Talkshow »Menschen bei Maischberger«. Die rhetorischen Anführungszeichen fügte sie rasch hinzu. Frauke Petry nahm diese Steilvorlage ohne Rücksicht auf den Kontext des Zitats dankbar auf. »Ist das nicht abstoßend u. beschämend, Frau Roth?«, twitterte sie nach der Sendung.
Der Umfrageerfolg der AfD in Sachsen könnte eine bundespolitische Signalwirkung entfalten. In der einst als stabil geltenden Bundesrepublik nehmen Proteste zu. Deutschland ist ein unruhiges Land. Die AfD profitiert vom Widerstand gegen die »Wir schaffen das«-Rhetorik der Kanzlerin. Die Ausrufung der »Flüchtlingskrise« hat die AfD erkennbar gestärkt. Und wer wegen des Hickhacks bei der Spaltung der Partei schon einen Totenschein ausgestellt hat, muss nun feststel-len, dass der Patient als Protestpartei in Ostdeutschland – im Gegensatz zu Luckes Alfa – putzmunter ist.