Passau in Ausnahmezustand

An der schönen blauen Donau

Seit der Wiedereinführung von Grenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze nimmt die Polizei täglich Tausende Flüchtlinge in Gewahrsam. In Passau zweifeln Helfer daran, dass die Bundespolizei die Migranten adäquat versorgen kann.

Abdulrahman Idris ist ein gefragter Mann. Viele der über 1 000 Flüchtlinge, die es am Sonntag nach Passau geschafft haben, wollen von ihm wissen, wie es jetzt weitergeht. Idris arbeitet ehrenamtlich als Übersetzer für Kurdisch und Arabisch in dem Team aus Helfern, das am Passauer Hauptbahnhof die Erstversorgung der ankommenden Flüchtlinge übernommen hat. Bundespolizisten nehmen die Migranten in den aus Österreich kommenden Zügen in Gewahrsam und bringen sie vor das Bahnhofsgebäude. Dort warten sie auf Bierbänken unter Pavillons darauf, dass die Polizei sie in Bussen abtransportiert. In dieser Zeit teilen Helfer Obst und Getränke aus, Abdulrahman Idris läuft die Metallgitter ab und versucht die zahlreichen Fragen der Flüchtlinge zu beantworten. Ein Polizeibeamter am Ende der Gitter spricht gebrochen Arabisch und weist die Flüchtlinge zum wartenden Bus.
Schon seit langem reisen viele Flüchtlinge über die niederbayerische Grenzstadt nach Deutschland ein (Jungle World 29/15). Mit der Wiedereinführung der Grenzkontrollen in Süddeutschland hat sich die Situation für Flüchtlinge in Passau weiter verschärft. Hubschrauber der Bundespolizei und Polizeikontrollen auf Verbindungsstraßen in Grenznähe vermitteln das Bild einer Stadt im Ausnahmezustand. Auf der A3 bilden sich von Österreich aus täglich kilometerlange Staus. Ziel der Maßnahmen ist es Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) zufolge, »den derzeitigen Zustrom nach Deutschland zu begrenzen und wieder zu einem geordneten Verfahren bei der Einreise zu kommen«.

»Ich komme aus Bagdad und bin geflohen, um mich mit meinem Leben nach Europa zu retten. Ich bin sehr glücklich, hier zu sein. Ich denke, ich werde hier studieren und ein sicheres Leben führen können«, sagt der 16jährige Arif, der ohne Familie nach Deutschland gekommen ist. Er wartet mit Dutzenden anderen Menschen am Bahnhof darauf, in einen Polizeibus zu steigen. Der Bus bringt die Flüchtlinge in eine ehemalige LKW-Garage, die als sogenannte »Clearingstelle« genutzt wird.
Etwa 300 Menschen halten sich in der ungeheizten Industrieanlage auf. Zutritt ist nur nach vorheriger Anmeldung möglich. Vier WC-Container stehen zur Verfügung, es riecht nach Urin. Als ein Notarztwagen vorfährt, fragt ein Polizist, wer den Wagen denn gerufen hätte. Es herrscht Verwirrung, man weiß von nichts. Polizisten zählen die ankommenden Flüchtlinge, stellen die Nationalität fest, verteilen Bändchen, prüfen, ob unbegleitete Minderjährige unter den Ankommenden sind. Die Flüchtlinge sollen eigentlich nur wenige Stunden in dieser Halle verbringen, um dann in reguläre Erstaufnahmeeinrichtungen gebracht zu werden, erklärt Bundespolizeisprecher Heinrich Onstein der Jungle World. »Die Versorgung ist sichergestellt. Es gab bei dieser Massenmigration, die wir einige Tage lang hatten, auch leichte logistische Probleme«, sagt er. Die Abläufe müssten sich erstmal neu einspielen, die Witterungsbedingungen spielten auch eine Rolle. »Es läuft jetzt alles sehr koordiniert ab«, so Onstein weiter.

Freiwillige Helfer haben jedoch auf Facebook über katastrophale Zustände in der Industrieanlage berichtet: »Die Lage ist wirklich unbeschreiblich. 1 100 Flüchtlinge in jeder Halle. Circa 18 Polizisten in jeder Halle, dort sind die Polizisten für alles zuständig, vom Essenverteilen bis Ordnung Reinbringen. Es sind sehr viele Kinder und Babys dabei, teilweise krank. Kein warmes Wasser, um Babymilch vorzubereiten, nicht genug Milch. Keine angemessene medizinische Versorgung, überfüllte Dixiklos. Ohne Helfer müssen die Leute lange ohne Essen bleiben«. Die Helferinitiative »Passau verbindet« teilte diese Einschätzung und hat freiwillige Helfer zur Unterstützung der Bundespolizei angeboten. Auch die Stadt Passau bot den Beamten ihre Hilfe an.
Die ehemalige LKW-Halle ist nicht der einzige Brennpunkt. Vor dem Theater der Stadt Passau kontrollieren Polizisten seit Tagen Fahrzeuge, die ihnen verdächtig erscheinen. Die angrenzende Marienbrücke ist neben der Autobahn die einzige PKW-Verbindung von Österreich nach Passau. Nach Angaben der Organisation »No Border Passau« mussten am Sonntag etwa 35 Flüchtlinge stundenlang auf der Straße warten, da keine Busse zum Abtransport zur Verfügung standen. Am Montagabend harren etwa 50 Menschen auf einem Kinderspielplatz in der Innenstadt aus. Sie warten auf einen Bus, der sie in die Clearingstelle bringen soll. Helfer haben einen W-Lan-Hotspot eingerichtet, die Menschen rufen Familienmitglieder an und geben ihren aktuellen Standort durch. Der Generator der Polizei ist angezapft worden, um die Handys der Flüchtlinge aufzuladen. Familien mit schreienden Säuglingen sitzen auf dem nackten Boden, einige haben sich bereits zum Schlafen hingelegt. Es herrscht Chaos, erst nach zwei Stunden kommt man auf die Idee, die Mütter mit Kindern in ein Fahrzeug des Roten Kreuzes zu bringen, das beheizt werden kann. Wohl in der Erwartung, dass ohnehin kein Bus mehr kommen wird, helfen Bundespolizisten Flüchtlingen dabei, ein Zelt aufzustellen. In direkter Nachbarschaft befindeen sich das Passauer Stadtheater und ein Uni-Hörsaal mit Platz für Hunderte Menschen.

»Jetzt sind alle damit beschäftigt, die erste Not abzubauen. Natürlich haben wir im Blick, was mit den Menschen passiert. Wir hoffen, dass wir mittelfristig politische Rahmenbedingungen bekommen«, sagt Wolfgang Duschl, der Pressesprecher der Caritas, die ebenfalls Erstversorgung leistet. Er erwartet von staatlicher Seite mehr Unterstützung und eine schnellere Bearbeitung der Asylanträge. Eine lokale Aktivistin bezweifelt im Gespräch mit der Jungle World den Sinn der Kontrollen: »Es hat sich eigentlich nichts geändert. Die Grenzen sind nicht dicht, es ist für die Flüchtlinge nur stressiger, hier einzureisen. Und bei den angeblichen Schleppern, die bei den Kontrollen festgehalten wurden, handelt es sich meiner Meinung nach meistens um Fluchthelfer, die das sicherlich nicht beruflich machen.«
Wie der Bayerische Rundfunk (BR) berichtet, säßen laut der Passauer Oberstaatsanwältin Ursula Raab-Gaudin nur sechs der 30 mutmaßlichen Schleuser, die die Bundespolizei in der ersten Kontrollnacht an der Autobahn aufgegriffen hat, in Untersuchungshaft. Bei den meisten der 30 handle es sich um Verwandte der Flüchtlinge, die schon länger in Europa leben.
Nicht nur mit Zug und Auto, auch zu Fuß versuchen einige Flüchtlinge über, die Grenze zu kommen. Sie überqueren beispielsweise in kleinen Ortschaften bei Passau Fußgängerbrücken über den Inn. Der Passauer Aktivistin zufolge versuchen einige aus Angst vor einer Festnahme auch nachts ihr Glück.
Während in ostdeutschen Gefilden oft nur ein Gerücht über ankommende Flüchtlinge den Mob schon auf die Straße treibt, hält sich die rassistische Mobilisierung unter den 50 000 Einwohnern Passaus in Grenzen. Auf Facebook wurden laut der Passauer Neuen Presse jedoch, seit die Zahl der neuankommenden Flüchtlingen gestiegen ist, tausendmal Beiträge geteilt, in denen von einer Massenvergewaltigung einer Sozialarbeiterin, die sich nach der Tat das Leben genommen haben soll, und Schusswechseln in und um Passau die Rede ist. Als Täter werden von vielen Kommentatoren wie selbstverständlich Flüchtlinge ausgemacht. Wie die Zeitung berichtet, hat die Polizei von derartigen Verbrechen nichts gehört, der »Schusswechsel« sei auf den Beginn der Entenjagd zurückzuführen.