Besuch in der Notunterkunft für Flüchtlinge in Potsdam

Organisiertes Chaos

In der vergangenen Woche wurde eine Notunterkunft für Geflüchtete in Potsdam eröffnet. Was mit den Menschen passieren wird, die derzeit dort leben, ist unklar. Laut Vorschrift müssen sie bei der Zentrale Erstaufnahmestelle des Landes in Eisenhüttenstadt registriert werden. Wo sie untergebracht werden sollen, ist unklar.

Niklas, 18 Jahre alt, hat gerade seine Schulzeit beendet. Seit zwei Tagen hilft der angehende Student in der neu eröffneten Potsdamer Notunterkunft für Flüchtlinge. In der Nacht von Sonntag auf Montag stellten eilig zusammengetrommelte Ehrenamtliche in den ehemaligen Ministeriumsgebäuden Betten und sanitäre Anlagen auf. Weit über 100 Helferinnen und Helfer arbeiteten stundenlang, bis eine minimale Infrastruktur auf dem weitläufigen Gelände an der zur Verfügung stand, als die ersten Flüchtlinge ankamen.
Bereits nach einigen Tagen hat sich eine Art Normalbetrieb entwickelt. Die freiwilligen Helferinnen und Helfer sind gut organisiert, ohne sie wären die wenigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) völlig überfordert. Niklas zum Beispiel dirigiert am ersten Checkpoint die ankommenden Autos, gibt Auskünfte, nimmt Sachspenden entgegen und erklärt Journalistinnen und Journalisten, wo genau auf dem großen Gelände die Flüchtlinge untergebracht sind. Am Pavillon steht er nicht allein, ein halbes Dutzend Leute kümmern sich um die Annahme der Sachspenden sowie deren schnelle Verteilung. Das Essen kommt in die Kellerküche, die Kleidung wird erst in einem Raum vorsortiert, um dann in der Ausgabe den Flüchtlingen zur Verfügung gestellt zu werden. Wie viele Menschen bisher Spenden abgegeben haben, überblickt auch Niklas nicht mehr. Aber er schätzt, dass allein seit dem frühen Morgen mindestens 70 bis 80 Autos auf das Gelände gefahren seien. Vor allem in der Mittagspause sei Stoßzeit. Nach ein ein paar Anfangsschwierigkeiten, als ihm noch unklar war, wo er sich am besten einbringen kann, ist Niklas nun voll in den Betrieb integriert. Die Frage nach seiner Motivation irritiert ihn: Sein Engagement für die Flüchtlinge erkläre sich doch von selbst. Schließlich habe er gerade viel Zeit und die Flüchtlinge benötigten dringend Hilfe. So einfach sei das für ihn.
Jan, Sportfotograf, der gerade eine Rikscha mit Sachspenden belädt, sieht das ähnlich. Er sei Freiberufler und könne deshalb auch mal spontan die Arbeit ruhen lassen. Es sei auch für ihn keine große Sache, in einer solchen Notsituation Hilfe zu leisten. Jan ist eigens aus Berlin angereist.

Die meisten freiwilligen Helferinnen und Helfer haben in den sozialen Netzwerken oder in der lokalen Tagespresse von der Einrichtung dieser Notunterkunft gelesen. Das Organisationsbüro veröffentlicht regelmäßig im Internet die Dienstpläne und eine Liste jener Sachen, die noch dringend gebraucht werden (refugeesinpdm.tumblr.com). Kritisch äußern sich die freiwilligen Helfer äußerst selten, und wenn dann hauptsächlich über die mangelhafte Organisation von Seiten des Deutschen Roten Kreuzes. Kathrin, ebenfalls Freiberuflerin, ist es zum Beispiel vollkommen unverständlich, warum staatlich alimentierte Hilfsorganisation das organisatorische Chaos nicht endlich in den Griff bekommen. Dabei ist die Antwort eigentlich einfach: Weil es funktioniert.
Auf dem Gelände fallen uns sofort Personen in orangefarbenen Westen auf. Es stellt sich schnell heraus, dass es sich dabei um ehrenamtliche Übersetzerinnen und Übersetzer handelt. Ob Deutsch-Arabisch, Deutsch-Kurdisch, Deutsch-Farsi oder Englisch-Arabisch, rund ein halbes Dutzend von ihnen wuseln durch die Anlage mit den vielen Backsteinhäusern. Manchmal sind sie umringt von einer Traube Flüchtlinge, manchmal verschnaufen sie gerade von einem Einsatz. Hocine kommt gerade von einer Krankenhaustour zurück, im Klinikum »Ernst von Bergmann« werden die Erstuntersuchungen durchgeführt. Ein Busshuttle fährt die Flüchtlinge dorthin. Am ersten Tag gab es noch keine Dolmetscher. Heute hat Hocine eine ältere Dame begleitet, die kein Wort Englisch versteht. Mit einem Lächeln auf den Lippen beschreibt er den Unterschied: Mit Dolmetscher habe es nur eine halbe Stunde gedauert, ohne Dolmetscher die vierfache Zeit. Der gebürtige Algerier ist nur zu Besuch in Potsdam, eigentlich lebt er in Köln. Als er davon gehört habe, dass in der Potsdamer Notunterkunft dringend Dolmetscher gebraucht werden, habe er sich spontan gemeldet. Es sei ihm eine große Ehre, den Neuankömmlingen so gut es geht zu helfen.
Verwundert reagiert er auf unsere Nachfrage, wie es um das Verhältnis zwischen kurdischen und arabischen Flüchtlinge bestellt sei. Ob es möglicherweise gewisse Antipathien untereinander gäbe? Hocine verneint energisch. Ihm sei nichts dergleichen zu Ohren gekommen. Im Gegenteil, auf der Flucht schlössen sich häufig arabische und kurdische Flüchtlinge zusammen. Das gemeinsame Fluchtschicksal und das gemeinsame Ziel schweiße sie zusammen. Eine junge Syrerin, die noch nicht lange in Deutschland lebt, sekundiert Hocine. Gerade auf dem weiten Weg von der Türkei nach Ungarn bilden sich zumeist größere Netzwerke, die sich gegenseitig unterstützen. Bei der Wahl dieser neuen Freunde spielt hauptsächlich Sympathie eine Rolle, nicht die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv. Das liegt nicht nur an dem gemeinsamen Schicksal. Diese Menschen fliehen aus der Enge der kollektiven Ödnis, wieso sollten sie nun Zuflucht genau in solchen Strukturen suchen? In Deutschland können sich die Flüchtlinge dann auf ein Netzwerk von ehemaligen syrischen Auswanderern stützen. Viele haben Verwandte in der Bundesrepublik, aber auch in Skandinavien, weshalb einige von ihnen hierzulande nicht registriert werden wollen. Sie wollen weiter nach Schweden, Dänemark oder Norwegen.

In der Nacht zum Dienstag setzten sich rund 180 Flüchtlinge aus einem ICE ab, vermutlich mit dem Ziel, Skandinavien zu erreichen. Nachdem der Zug Leipzig verlassen hatte, wurde mehrfach die Notbremse gezogen. Den Passagieren wurde auf der Reise nicht mitgeteilt, dass sie anstatt nach Sachsen nun nach Brandenburg kommen werden. Mitten auf der Strecke sprangen sie aus dem Sonderzug. Letztendlich kamen am Regionalbahnhof Schönefeld anstatt der 518 angekündigten Menschen aus München nur 339 an. Einige der Geflüchteten wurden kurz darauf in Sachsen-Anhalt wieder aufgegriffen. Andere sollen aber erfolgreich abgetaucht sein. Für die junge Übersetzerin aus Syrien ist das kein Wunder. Weder ein Zaun um Ungarn herum, noch eine Mauer um Europa oder das stürmische Mittelmeer könnten die Menschen aus Syrien auf ihrem Weg nach Europa aufhalten. Dublin-Verfahren hin oder her, die Menschen täten alles dafür, dorthin zu gelangen, wo sie die besten Chancen für ihre Zukunft sehen. Das ist zumeist dort, wo schon Verwandte oder zumindest Bekannte leben. Kurz und bündig erklärt sie in ihrem perfekten Englisch: »They can’t stop this people!«
Die Registrierung der in Potsdam angekommen Flüchtlinge ist zwischen der Landesregierung und antirassistischen Initiativen extrem umstritten. Zuerst war geplant, in Potsdam eine Zweigstelle der Erstaufnahme einzurichten. Diese wird jedoch frühestens in einem Vierteljahr einsatzbereit sein. So lange gibt es nach Auskunft von Frank Nürnberger, dem Chef der Zentralen Ausländerbehörde des Landes, keine Alternative zur amtlichen Registrierung im Erstaufnahmelager Eisenhüttenstadt. Für jene Flüchtlinge, die vorerst in Potsdam bleiben wollen, wird voraussichtlich ein Shuttle eingerichtet, der sie am Morgen zur Registrierung fährt und am Abend zurück in die Landeshauptstadt bringt. Landesinnenminister Karl-Heinz Schröter (SPD) will die Flüchtlinge selbst entscheiden lassen, ob sie den Shuttleservice nehmen wollen oder eine Unterbringung in Eisenhüttenstadt oder Frankfurt/Oder bevorzugen. Ferner stellte er auf einer Anwohnerversammlung in Potsdam klar, dass, sobald die Zahl der Neuafnahmen sinke, die Notunterkunft in der als erster Standort wieder geschlossen werde. Schröters, die Flüchtlinge auf die Zentrale Erstaufnahmestelle (ZASt) in Eisenhüttenstadt zu verteilen, stößt auf heftige Kritik. Seit Monaten ist die Einrichtung überbelegt, es herrschen schwierige Umstände. Die Bewohnerinnen und Bewohner müssen sich ihre Zimmer manchmal mit acht Personen teilen.

Als Frank Nürnberger, der Leiter der ZASt, die Einrichtung zum ersten Mal sah, sei er schockiert gewesen. »Sechs Quadratmeter pro Person, eine Toilette und Dusche für 30 Personen. So will kein Deutscher leben!« Einige Flüchtlinge wohnen in einem ausgeräumten Verwaltungsgebäude, andere in einer ehemaligen Sporthalle mit 100 Doppelstockbetten und wiederum andere in einem der 42-Mann-Zelte. Einfache Feldbetten sind reihenweise im Zelt aufgebaut, 20 bis 40 Stück an der Zahl. Es ist alles sehr beengt und die hygienischen Bedingungen sind mangelhaft. Diese menschnunwürdigen Zustände waren ein Grund dafür, in Potsdam eine zweite Erstaufnahmestelle beziehungsweise Notunterkunft einzurichten.
Eine spätere Verteilung der Flüchtlinge auf die Kommunen bedeutet auch keine automatische Verbesserung der Wohn- und Lebensumstände. Das zeigt ein aktuelles Beispiel aus der brandenburgischen Kreisstadt Luckenwalde. In einer vom Internationalen Bund betreuten Flüchtlingsunterkunft in der Gartenstraße werden die Flüchtlinge nicht nur nach Herkunft aufgeteilt. Während die syrischen, tschetschenischen und afghanischen Flüchtlinge in zwei Gebäuden untergebracht wurden, in denen es abschließbare Zimmer gibt, wohnen die Flüchtlinge vom Westbalkan, zumeist aus Serbien und Albanien, in einer großen Halle ohne nennenswerte Privatsphäre. Insgesamt leben hier 50 Personen, davon mindestens zehn Kinder, auf engstem Raum. Provisorisch eingerichtet grenzen Bauzäune die jeweiligen Wohnbereiche ab. Einzig mit Fahrradschlössern versuchen die Bewohnerinnen und Bewohner wenigstens etwas Sicherheit zu simulieren. Aber es gelingt kaum. Tagsüber spielen Kinder wild durcheinander in den engen Gassen zwischen den Wohnbereichen. Es ist laut, chaotisch und, je nachdem wo man sich gerade befindet, nimmt man die Gerüche von der Küche oder den Toiletten wahr. Die Wohnbereiche sind beengt, die Doppelstockbetten stapeln sich beinahe. Außerdem gibt es kaum Platz, private Sachen unterzubringen. Vor allem aber die Nächte sind der absolute Horror. Zwar wird das Licht ausgeschaltet, aber die Geräuschkulisse ist unbeschreiblich. Es fällt schwer, richtig zur Ruhe zu kommen. Die meisten Bewohnerinnen und Bewohner sind Roma aus Serbien oder Albanien, ihre Anerkennungsquote liegt fast bei null. Einige der hier eingepferchten Flüchtlinge werden nach vier Wochen abgeschoben, andere müssen wiederum monatelang auf ihre Bescheide warten. Was häufig als Zwischenlösung erscheint, ist für diese Bewohnerinnen und Bewohner ein kaum auszuhaltender Dauerzustand. Eine Belastung, die vor allem die Kinder hart trifft. »Völlig unabhängig der Verweildauer«, fordert deshalb der geschäftsführende Jugendbildungsreferent der Sozialistische Jugend – Die Falken Brandenburg, Robert Sprinzl, müssen die Flüchtlinge menschenwürdig untergebracht werden. Vor allem »den Kindern fehlen in den hoffnungslos überbelegten Unterkünften die nötigen Rückzugs- und Spielmöglichkeiten«. Solch eine »Form der Unterbringung stelle eine massive Gefährdung des Kindeswohls dar« und verhindere eine eigenständige Persönlichkeitsentwicklung.

In der Notunterkunft in Potsdam haben die Menschen in den Wohnbereichen ebenfalls wenig Platz. In einigen Zimmern, zumeist jenen, wo alleinreisende Männer untergebracht sind, müssen vier Personen auf engstem Raum leben. Eine dauerhafte Lösung in der setzte eine Reduzierung der Belegung voraus. Für den jungen Syrer, der uns bei der Besichtigung der Räumlichkeiten begegnet, ist es erst einmal ein ruhiger Platz zum Schlafen mit einem Dach über dem Kopf. Er erzählt, dass seine Mutter endlich in einem Krankenhaus untersucht werde und er nicht nur deshalb sehr froh sei, in Deutschland angekommen zu sein. 15 Tage waren er und seine Mutter zu Fuß, mit Schleppern im Auto und per Bus auf dem Weg aus der Türkei nach Ungarn unterwegs. Eine Strapaze, die ihn die letzten Kräfte gekostet hat. Draußen vor der Tür wacht eine Schülerin darüber, wer in das Haus hineingeht. Unbefugte sollen daran gehindert werden, in die Unterkünfte zu gelangen. Gleichzeitig ist sie die erste Ansprechpartnerin für die Flüchtlinge, die in dem Haus untergebracht wurden. In ihrer Schule werde sie deshalb gehänselt. Nur eine Mitschülerin sei ebenfalls aktiv in der Flüchtlingshilfe. Ab und zu fragten einige Lehrerinnen und Lehrer interessiert nach. Aber ansonsten lasse das Schicksal der Flüchtlinge die Menschen in ihrer Umgebung eher kalt. Die meisten freiwilligen Helferinnen und Helfer rekrutieren sich aus der linken Szene, es sind größtenteils Studierende. Mit dem Beginn des neuen Semesters wird ihre Zeit knapper.
Auf dem Weg nach draußen begegnet uns ein Security-Mitarbeiter. Ziemlich verloren steht er auf seinem Posten. Auf die Frage, wie die Flüchtlinge auf ihn, den uniformierten Mann, reagieren, schmunzelt er. Es komme immer darauf an, wie man auf die Menschen zugehe. Er versuche, immer freundlich zu sein und zu lächeln. Eine gewisse Gefahr bestehe zwar, da aber auf dem Gelände die Bundespolizei ihr Präsidium habe, seien viele potentielle Angreifer abgeschreckt. Einige Aktivisten hatten in den Tagen zuvor stadtbekannte Neonazis beim Herumschleichen um das Gelände beobachtet. Auch sie gehen davon aus, dass die Polizeipräsenz für die Flüchtlinge ein Vorteil ist. Genau gegenüber der Kleiderausgabe steht das kleine Präsidium der Bundespolizei, ein unscheinbarer Altbau. Auf der Rasenfläche davor arbeiten Polizisten zum Teil in Uniform an einem Denkmal. Jan, der Sportfotograf, hatte uns ganz am Anfang darauf hingewiesen. Ein älterer Herr erklärt uns, dass es sich um ein Denkmal für die im Dienst verstorben Bundespolizisten handelt. Fotos dürfen wir nicht machen. Nicht einmal nach der feierlichen Eröffnung. Etwas verwundert über diese Antworten haken wir nach: »Arbeiten Sie hier privat oder während der Arbeit?« Der ältere Herr antwortet »privat«, neben ihm, ein etwas jüngerer Herr in Uniform: »während der Arbeit«. Die Situation wirkt etwas skurril. Solange die Beamten irgendwelche Denkmäler bauen, können sie wenigstens an der Grenze keine Kontrollen durchführen.