Roma-Familien haben eine Kirche in Hamburg besetzt

Roma im Michel

Um ihre drohende Abschiebung in vermeintlich »sichere Herkunftsstaaten« zu verhindern, haben mehrere Roma-Familien die Kirche St. Michaelis, ein Wahrzeichen Hamburgs, besetzt.

»Wir geben nicht auf. Auch wenn wir weg sollen, so bleiben wir trotzdem hier«, betonte Romano Schneider* den langen Atem der Roma-Familien, welche die Hauptkirche St. Michaelis, genannt Michel, besetzt halten. Auf einer provisorischen Pressekonferenz dementierte er die Falschmeldung, die Roma-Familien hätten bereits wenige Stunden nach der Besetzung der evangelischen Hauptkirche aufgegeben. Am Donnerstag voriger Woche entrollte die Gruppe »Romano Jekipe Ano Hamburg – Vereinigte Roma Hamburg« Transparente im Kirchenschiff und erklärte den Michel für besetzt. Sie forderten ein sofortiges Ende der Abschiebungen auf den Balkan sowie ein Bleiberecht für ihre Familien. Vom Turm wehte weithin sichtbar ein Transparent: »Alle bleiben!« Unterstützergruppen organisieren Solidarität. Esther Bejarano, die Vorsitzende des Internationalen Auschwitz-Komitees, unterstützt die Forderungen der Besetzenden: »Selbstverständlich bin ich dafür, dass Deutschland so viele Flüchtlinge wie möglich aufnimmt.« Ihre Schwester sei erschossen worden, weil die Schweiz sie nicht als Flüchtling aufgenommen, sondern nach Nazideutschland zurückgeschickt habe. »Aus diesem und vielen anderen Gründen bin ich dafür, die Roma aufzunehmen«, sagte sie der Jungle World.

Die sogenannten »sicheren Herkunftsländer« sind nicht sicher für Roma: »Es herrscht ein gefährlicher Mix aus Rassismus aus den Bevölkerungsmehrheiten und den staatlichen Institutionen«, so »Romano Jekipe Ano Hamburg« in einer Erklärung. »Der Zugang zu Arbeitsplätzen, Bildung und zur Gesundheitsversorgung ist weitestgehend versperrt.« Immer wieder geht es auch bei der Besetzung des Michel darum, Deutschen zu erklären, dass Roma auf dem Westbalkan eine rassistisch diskriminierte Minderheit sind. »Dies wird von den politisch Verantwortlichen in der Ausländerbehörde und der Justiz ignoriert«, sagt Ivo Schneider* im Gespräch mit der Jungle World.
Auch die Besetzergruppe »Romano Jekipe Ano Hamburg« im Michel besitzt Dokumente der Diskriminierung von Roma in den vermeintlich sicheren Herkunftsstaaten. Jede und jeder kann eine persönliche Geschichte vorweisen, die als Asylgrund gelten müsste. Zdravko Schneider* zeigt ein Attest, das eine psychische Erkrankung bescheinigt, und eine »Meldeauflage für die Bundespolizei am Flughafen Hamburg« – eine Abschiebungs­anordnung der Stadt Hamburg. Fotos der ganzen Familie sind mitabgedruckt. Das Schreiben soll zur Identifizierung am Flughafen vorgezeigt werden. »Die nehmen keine Rücksicht auf schwere Krankheiten«, sagt er. Die Abschieberoutine ist genau geregelt: »Der Aufenthalt gilt bis zum oben genannten Termin als geduldet.« Danach ist die Duldung aufgehoben, ein weiterer Aufenthalt in Deutschland nur klandestin möglich. Der aufgedruckte Termin ist verstrichen: »Ja, wir haben beschlossen, uns an der Besetzung zu beteiligen, um ein Bleiberecht für uns zu erreichen. In die Unterkunft zurück können wir nicht.« So ist es nicht verwunderlich, dass viele der Roma Koffer und große Taschen dabei haben – ihren gesamten Besitz.
»Über 20 Familien haben von der Ausländerbehörde einen Bescheid für ihre Abschiebung nach Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und in den Kosovo innerhalb der nächsten Woche bekommen«, heißt es in einer Erklärung von »Romano Jekipe Ano Hamburg«. »Als letztes Mittel, um nicht in eine Situation von Verfolgung, Diskriminierung und Elend abgeschoben zu werden, haben wir seit heute die Sankt Michaelis-Kirche besetzt.« Die Gruppe ist entschlossen: »Wir werden den Michel so lange besetzen, bis wir unser Ziel erreicht haben!«
Die »Romano Jekipe Ano Hamburg« entstand im Mai in Hamburger Flüchtlingsunterkünften, die Besetzung ist eine unter den Bedingungen eines unsicheren Aufenthaltsstatusses gemeinsam beschlossene Aktion. Noch in der Nacht vor der Besetzung des Michel wurden 14 Roma, Erwachsene und Kinder, in ihren Flüchtlingsunterkünften in Hamburger Stadtteilen geweckt und sofort abgeschoben. Ohne Ankündigung, ohne Möglichkeit, noch einmal zu telefonieren, in eine ungewisse Zukunft. »Wir wissen von diesen 14, aber es kann gut sein, dass noch mehr Roma in dieser Nacht abgeschoben wurden – im Rahmen einer Sammelabschiebung per Flugzeug«, so Romano Schmidt.

Daraufhin haben 43 Roma den Michel besetzt. Es sind Familien, darunter 28 zum Teil kleine Kinder. »Die Frauen schlafen im Gemeindehaus, die Männer in der Kirche«, erklärt Romano. In einem Seitenschiff der großen Kirche, wo sie sich auch tagsüber aufhalten, ohne die Gottesdienste zu stören. Der Kirchengemeinderat erklärte aber, die Situation sei »für St. Michaelis untragbar«, die Kirche in einem Dilemma: »Einerseits wollen wir die Roma-Familien nicht aus der Kirche holen. Sie sind von Abschiebung bedroht und darum in einer Notlage, weil ihnen in ihren Herkunftsländern Verfolgung und Diskriminierung drohten. Andererseits können wir an der Situation dieser Menschen nichts ändern.« Hauptpastor Alexander Röder sagte am Sonntag dem Norddeutschen Rundfunk (NDR), es werde zwar kein Kirchenasyl geben, man werde die Menschen aber auch nicht einfach vor die Tür setzen. Er ließ offen, wie lange sie bleiben können.
»Ich bitte euch alle im Namen Gottes, uns zu helfen«, sagte ein Sprecher der Gruppe im Sonntagsgottesdienst, worauf Landesbischof Gerhard Ulrich in seiner Predigt unverbindlich einging: »Ich fühle mit Ihnen.« In dieser Woche will Pröpstin Ulrike Murmann mit der Innenbehörde über mögliche Lösungen des »Dilemmas« sprechen.
Auf Verständnis kann sie dabei nicht hoffen. In der Abschiebeabteilung der Ausländerbehörde arbeiten nun 20 Mitarbeiter, dreimal mehr als Anfang 2015, mit einer klaren Zielvorgabe. »Wir fahren eine sehr konsequente Linie, gerade was die Balkanländer angeht. Es ist schon abstrus, dass wir 50 Prozent aller Flüchtlinge aus dem Balkan haben«, so Innensenator Michael Neumann (SPD) gegenüber dem NDR. »Wir werden verstärkt daran arbeiten«, sagte Sozialsenator Detlef Scheele (SPD), »dass die ausreisepflichtigen Asylbewerber auch tatsächlich ausreisen.« Am Samstag forderte der Landesparteitag der SPD, die Westbalkanstaaten zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, um Asylanträge von Menschen aus diesen Ländern schnell ablehnen zu können. Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) sagte in seiner Grundsatzrede: »Im westlichen Balkan geht es nicht um Verfolgung, da geht es um Arbeitsmigration.«

* Namen aller Besetzer auf Wunsch geändert.