Der Roman »Telluria« von Vladimir Sorokin

Wie es nach dem Sieg Konrads von Kreuzberg über die Salafisten weiterging

Vladimir Sorokin beschreibt in seinem neuen Roman »Telluria« ein Schlachtgemälde, das aus der Zukunft kommt.

Der russische Schriftsteller Vladimir Sorokin proviziert: erst die sowjetische und später die russische Regierung und ihre Anhänger. Mit den Mitteln der Ironie, Groteske und Überzeichnung arbeitet er sich sowohl an der russischen Literaturgeschichte als auch an der politischen Geschichte und Gegenwart des Landes ab. In seinen Texte entwirft er verstörende Zukunftsbilder, etwa in seinem Roman »Der Tag des Opritschniks« (2008). Darin schildert er ein fiktives Russland im Jahr 2027. In der christlich-orthodoxen Diktatur terrorisieren die Opritschniki, die Leibgarde des Herrschers, die Bevölkerung.
Sorokins neuer Roman »Telluria« geht einen entscheidenden Schritt weiter. Auch er spielt in der Zukunft. Die Welt ist nach einer Reihe von Religionskriegen, Revolutionen und Aufständen in voneinander isolierte Kleinstaaten zerfallen, in denen unterschiedlichste politische Machtstrukturen herrschen. Da ist das kommunistisch-orthodoxe Moskowien, eine sowjetische sozialistische Stalinrepublik und ein feudalistisches Neukölln mit einem Herrscher namens Konrad von Kreuzberg, der die Islamisten besiegt hat. Köln ist eine Republik, und dann gibt es noch den Zwergenstaat Telluria, der einen florierenden Drogenhandel betreibt. Es gibt in dieser Zukunft keinen großen Terrorstaat, der alle gleichmachen will und alles zu beherrschen droht, sondern viele Kleinstaaten auf dem Gebiet Europas und Asiens, von denen nur wenige demokratisch organisiert sind. Monarchien und religiöse Dikaturen, die sich im Stil vergangener Jahrhunderte inszenieren, sind die dominierende Staatsform geworden. Bedroht werden diese Staaten von Salafisten und den Taliban, deren Belagerung das ehemalige Deutschland zwar beenden konnte, die aber weiter vom Jihad bedroht werden. Von der internationalen Staatengemeinschaft mit gemeinsamen demokratischen Ansprüchen hat man sich denkbar weit entfernt. Jeder hat sich in seinem Staat eingerichtet; die Regression ist ihnen allen auf verschiedene Weise gemeinsam: Religiöse Sinnstiftung, romantisierende Vorstellungen der Vergangenheit, Heldenverehrung, Technikfeindlichkeit und völkisches Gedankengut sind omnipräsent.
Sorokin lässt die Schrecken der Vergangenheit wieder lebendig werden, verzerrt und pervertiert: Christliche Fundamentalisten brechen zu einem Kreuzzug gen Istanbul auf – unterstützt von Robotern und Raketenwerfern; Fürsten auf Jagdausflug freuen sich, dass sich Schüler allein für die Verwendung des Wortes »Internet« im Klassenzimmer hinknien müssen, und Stalinisten haben einen eigenen Staat gegründet, der von linksradikalem Tourismus und der Produktion stalinistischer Devotionalien lebt.
Der Roman ist so unübersichtlich wie die politische und weltanschauliche Lage, die er beschreibt: »Telluria« ist ein Panorama verschiedener Stile und Perspektiven. In kurzen Kapiteln wird man immer wieder in neue Situationen hineinkatapultiert – ohne Erklärungen oder Erläuterungen, ohne fortlaufende Handlung. Aber da Sorokin eine Welt zeigt, in der es ein prototypisches Schicksal nicht mehr gibt, sondern bloß noch ein Nebeneinander verschiedenster Lebensformen und -entwürfe, ist das nur konsequent.
Ein verbindendes Moment gibt es dennoch: die Droge Tellur, der alle verfallen zu sein scheinen. Sie transportiert die Konsumenten in eine Welt, die ihre sehnlichsten Wünsche erfüllt. Und diese speisen sich vor allem aus idealisierten Erinnerungen. Tellur hat die Kraft, die Zeit zu überwinden und schickt die Süchtigen in ein Delirium. Ritter, Cowboys und Arbeiterführer beherrschen die Traumwelten und verwandeln Europa und Asien in einen riesigen Themenpark.
»Telluria« ist keine Dystopie, die vor dem technischen Fortschritt warnt. Sorokin zeigt vielmehr eine zutiefst fortschrittsfeindliche Welt. Eine, in der man sich an der Vergangenheit festklammert, sie glorifiziert und zwanghaft in die Gegenwart überführt. Technische Errungenschaften, die über den heutigen Stand hinausgehen, sind zwar vorhanden – aber nur wenige haben Zugang zu ihnen. Die Selbstverständlichkeit von Information, die Präsenz des Internets sind hier nur Sonderfälle. Pferdekutschen und Rittergeschichten bestimmen den Alltag:
»Betrachtet doch nur unseren euroasiatischen Kontinent«, heißt es in der Erzählung. »Nach dem Zusammenbruch der ideologischen, geopolitischen und technologischen Utopien ist er endlich in ein gesegnetes aufgeklärtes Mittelalter gesunken. Die Welt hat ein menschliches Maß angenommen. Die Nationen haben zu sich selbst gefunden. Die Menschen haben ein neues Gefühl für die Dinge bekommen, sie fangen an, gesund zu essen, steigen auf Pferde um. Wir begreifen, dass es auf Erden kein technologisches Paradies geben kann. Und überhaupt kein Paradies. Die Erde ist uns als eine Insel der Überwindung gegeben. Und jeder wählt aus, was er überwindet und wie. Jeder für sich selbst!«
Den Wunsch, dass es allen einmal besser gehen könnte, dass der Mensch einmal von Zwängen befreit seine Potentiale verwirklichen könnte, hat die Menschheit aufgegeben. Die einzigen Utopien, die hier noch Bestand haben, sind private Träume von einer glorreichen Vergangenheit.
Sorokin beschreibt die Flucht aus einer unübersichtlichen Welt in irrationale Rituale und Weltanschauungen – und warnt damit vor Entwicklungen, die weltweit nicht zu übersehen sind. Es geht um den Aufstieg völkischer Ideologien, die Flucht in Spiritualität, die Beschwörung der »guten Seiten« der Vergangenheit, um die Zensur des Internets, Verschwörungstheorien und einfache Welterklärungen. Und nicht zuletzt um die Aufgabe der Vorstellung von Universalismus und verbindlichen Standards zugunsten uneingeschränkter Rücksichtnahme auf subjektive und partikulare Perspektiven – sowohl in einigen Bereichen der Wissenschaft als auch in der politischen Zusammenarbeit.
»Telluria« zeichnet ein ganz anderes und wohl treffenderes Zukunftsbild als etwa Dave Eggers Roman »Der Circle«, die meistdiskutierte Dystopie der letzten Jahre, die von vielen als das moderne »1984« gepriesen wurde. Im »Circle« wird die Entwicklung von Social Media zur absoluten Transparenz jedes Einzelnen vorgeführt – und ruft damit wie die klassischen dystopischen Romane die Angst vor dem Verlust des Unbeobachteten und Privaten auf. »Telluria« dagegen zeigt, dass heute die Gefahr vielleicht weniger darin besteht, dass zu viel gewusst wird, als darin, dass Wissen und Information von Mythen und Gebeten abgelöst werden.

Vladimir Sorokin: Telluria. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015, 416 Seiten, 22,99 Euro