Schorsch Kamerun im Gespräch über die Lage der Nation

»Wir sind uneinsichtige Rechthaberlinge«

Schorsch Kamerun gibt Auskunft über das neue Album der Goldenen Zitronen und beurteilt die Lage der Nation.

Herr Kamerun, gerade ist ein Album der Goldenen Zitronen »außerhalb der Reihe« erschienen, wie es im Ankündigungstext des Labels heißt. »Flogging A Dead Frog« enthält bearbeitete Stücke von den vergangenen drei Alben. Fällt der Band nichts Neues mehr ein?
Erstmal sind das neue Versionen. Drei Songs auf Englisch, weil wir wieder mal anstreben, woanders spielen zu können. Und bei den anderen Stücken wollten wir die Musik in den Vordergrund rücken, ohne dass der – wenn auch phantastische – Sänger ständig davor quatscht. Unsere Platten werden zwar inhaltlich sehr wahrgenommen, aber eben immer eher über den Text. Wir glauben aber daran, dass unsere Formversuche, unsere Ästhetik auch schon eine deutliche Haltung haben und sehr inhaltlich sind. Deshalb dieser für uns ungewöhnlich wortkarge Auftritt.
Sie wollten absichtlich vom Text und von konkreten Aussagen wegkommen?
Nicht unbedingt wegkommen, aber unter dem Text liegt auch eine Aussage, und die wollten wir stärken. Wir haben die Musik bei fast allen Stücken neu angeschaut, ergänzt, anders gemischt oder auch neu eingespielt, um diesen Anspruch zu unterstreichen. Wir hoffen, dass man die Band dadurch noch einmal anders hört. Musik kann sprechen. Ob das als Mitteilung reicht, wird jeder anders beurteilen.
Mir ist es schwergefallen, einen Fuß in die Tür zu kriegen. Nicht weil die Stücke instrumental oder auf Englisch nicht funktionieren würden, sondern weil ich bei Ihren Veröffentlichungen gewohnt bin, nach inhaltlichen Anknüpfungspunkten zu suchen.
Ich finde es ja gut, wenn man eine Erwartungshaltung vermeiden kann, aber vielleicht fällt das bei den Goldenen Zitronen besonders schwer, weil wir bei allem, was wir machen, gefühlt für etwas stehen. Und möglicherweise ist das auch der Türöffner zu unserem Zeug. Unsere wichtigen Themen kommen in den drei englischsprachigen Stücken ja trotzdem vor. Plus, das erste Stück mit dem ersten Satz – »Wer hier jetzt dabei ist, kann nicht nur dafür sein« – spricht sowohl für uns und unser Handeln als Gruppe als auch für »euer alle« Widersprüchlichkeit. Für mich jedenfalls trifft dieser Satz eine ganze Menge.
Ein Zitat aus der Zeit von 2009: »Auf der Suche nach einer gemeinsamen Sprache landet die Band immer häufiger bei einer Musik, die sie in Welten trägt, in denen man die sperrigen Textcollagen Schorsch Kameruns gar nicht mehr entziffern kann.« Rückblickend könnte man eine Kontinuität hin zu dem Schritt konstruieren, der Sprache weniger Bedeutung zu geben.
Wir werden weiter über unsere Texte wahrgenommen, das erleben wir auch mit dieser Platte. Auch die jetzige Ansprache an uns lehnt sich meistens an die Texte an, weniger an die Musik. Auch wir werden in der aufsaugenden Komplexität von heute verdichtet und verkürzt. Und so sind unsere Alleinstellungsmerkmale anscheinend gerade das Thema Gentrifizierung mit all seinen Widersprüchlichkeiten und auch das sogenannte Flüchtlingsthema. Es ist ja okay, dass das Wort vorn steht, wir sind über die Möglichkeit von Sprache, uns damit einzumischen, erst zu unserer Band gekommen. Trotzdem empfinden wir auch unser kollektives Musizieren als aktive Aussage und versuchen deshalb, uns mit dieser Platte noch einmal anders zu positionieren.
Die Goldenen Zitronen sind eine Band, die man vor der Folie des politischen Zeitgeschehens wahrnimmt und die in ihren künstlerischen Positionen immer auch darauf reagiert hat, was da draußen so los war.
Das lässt sich nicht leugnen.
Ich habe auch bei der neuen Platte darüber nachgedacht, inwiefern sie eine Reaktion auf irgendetwas sein könnte. Aber das scheint gar nicht der Fall zu sein.
Man kann nicht sagen, dass die Dringlichkeit der Themen, die es auf der Platte gibt, in irgendeiner Form nachgelassen hat. Leider im Gegenteil. Und natürlich haben wir sie auch deswegen ausgewählt. Die Diskurse gehen zwar immer weiter, aber tatsächlich lässt sich nicht stündlich Neues dazu sagen. Es war aber auch nicht unsere Idee, schon wieder das nächste Statement zu liefern. Dafür gibt es das neue Video zu dem Turnschuhlied – das wollen wir schon als Diskursbeitrag verstanden wissen.
Man hat den Eindruck, »If I Were A Sneaker« hat nicht nur wegen des Videos eine herausgehobene Position, sondern auch aufgrund seiner Stellung auf dem Album. Und natürlich ist das Thema Europa und seine Grenzen gerade sehr aktuell.
Das Thema ist viel stärker in den Fokus einer größeren Öffentlichkeit geraten und deshalb fühlt es sich so an, als würden wir mit dem Stück noch mal einen Kommentar rauswerfen, aber das versucht eben aktuell eher der begleitende Clip. Mein Gefühl ist, die Bilder machen hier etwas anderes auf. Wir wollten das Stück sicher nicht zusätzlich zum medialen Geknalle bringen. Die Songauswahl gab es schon lange vorher – wie das eben so ist.
Auch spannend: So aktuell das Video thematisch ist, die Ereignisse haben es schon wieder überholt.
Stimmt schon, ja. Dennoch liegt die Überspitzung darin, dass eine aus unserer Sicht längst stattfindende interkulturelle Normalität sich offensichtlich in der Wahrnehmung allgemein nicht durchgesetzt hat. Erstaunlicherweise.
Das Video arbeitet sich unter anderem an Pegida ab, aber ich sitze hier in München keine zwei Kilometer vom Hauptbahnhof entfernt. Was da gerade los ist, und nicht nur da, ist wieder eine ganz andere Facette.
Auch wir begrüßen das Helfen. Trotzdem schreckt mich weiter der Zynismus der Regierenden ab. Wie kann es sein, dass man das »Willkommenheißen« gar als kulturell bezeichnet, aber weiter gemütlich dem Todesrennen zuschaut. Dass sich Flüchtende Wochen und Monate in und an Meeren, Zäunen oder rassistischen Staaten zerreißen, und die situierten Gönner warten auf eventuell Durchkommende. Warum schickt man nicht 400 Euro für den sicheren Flieger und bewahrt so vor der nächsten Todesgefahr nach der des Kriegsgemordes? Es bleibt dabei: Auch die neue, gute Doktor Mutter Merkel macht sich weiter der unterlassenen Hilfeleistung schuldig.
Sie haben im Zusammenhang mit den brennenden Asylbewerberheimen das Stichwort »Anfang der neunziger Jahre« genannt …
Ja, aber ich erlebe das als endlose Wiederkehr. Für mich seit Ende der siebziger Jahre, wo die Stammtische schon genauso »artgerecht« gefordert haben. Nicht ganz wenige hier wollen anscheinend nichts anderes als sich selbst.
Haben Sie das Gefühl, als Künstler unterschiedlich auf diese Wellen reagieren zu müssen? Ist eine Repositionierung angesichts der damals und heute brennenden Flüchtlingsunterkünfte notwendig?
Die Betrachtung ist eine andere. Wir haben damals mit »Das bisschen Totschlag« …
… einem Album, das 1994 eine Zäsur in Ihrer Bandgeschichte war. Eine Veränderung in der Ästhetik und in Ihrem Auftreten.
Es gab in unserer Geschichte schon vorher Scharniere dahin. An verschiedenen Punkten, und eben auch, wie wir mit Texten umgehen und mit welcher Art schlecht mitsingbarer Musik wir das machen. Damals war die Idee eine Art journalistische Lageberichterstattung, also Fakten zu sammeln, diese zusammenzupacken und zu einer Beschreibung der Stimmung im Land zu verdichten und wie der sogenannte Bürger damit umgeht. Heute ist die Betrachtung eine andere. Das meinte ich damit, dass man sich gegenwärtig auch mal freuen kann über bestimmte Ereignisse. Was aber nicht weniger geworden ist, das sind die Leute, die damals in Lichtenhagen vor den Häusern standen und die jetzt in Heidenau zugange sind. Zu denen gibt es sicher keine neue Haltung.
Wie erklären Sie sich diese gegensätzlichen Tendenzen innerhalb des heutigen Deutschlands? Auf der einen Seite brennende Flüchtlingsunterkünfte, auf der anderen Seite eine hysterisch übersteigerte, vielleicht sogar narzisstische Willkommenskultur?
Dafür muss man die Frage stellen, wie es sein kann, dass die Menschen, die in diesen Tagen hier ankommen, so eine Begeisterung auslösen. Mir scheint, für Sinti und Roma, die auf der Flucht sind, aber auch für alle möglichen anderen, steht niemand da und holt seine gebrauchten Babyklamotten aus dem Keller. Aber eben, da fängt der eigene polemische Umgang schon wieder an, und das mag man nicht immer sein. Gerade hat Frau Kanzlerin gesagt, dass das Recht auf Asyl in Deutschland keine Obergrenze kennt. Das ist ein bemerkenswerter Satz, der bedeutet, dass aus dieser Sichtweise dass erstmal ein Recht hat, auch einen Anspruch hat, hier zu sein. Wenige Tage später allerdings hatten wir die ersten Grenzkontrollen. Man muss verstehen, dass die da oben mit allem Machtanspruch weiterhin völlig unfähig und unzuverlässig sind und wohl auch in den nächsten Jahrhunderten großen Schaden anrichten werden.
Gleichzeitig zu der Aussage der Kanzlerin soll ein Land wie der Kosovo in die Liste der sicheren Herkunftsstaaten aufgenommen werden.
Diese Perspektive unterscheidet gute Flüchtlinge und schlechte Flüchtlinge. Ein weiterer Zynismus: die Auswahl, das ökonomische Abtesten nach brauchbarem Material. You are welcome, wenn du eine gute Ausbildung hast und solange wir hier nicht genug Kinder zeugen, weil wir als Schuldkomplexvölkchen leider zu psycho sind.
Eine kritische Hinterfragung der Hilfsbereitschaft stellen Sie erstmal zurück?
Es darf auch den Moment geben, wo man Dinge gut findet. Und seien sie nur rausgenommen aus dem entsetzlichen Brei. Die kritische Hinterfragung läuft ja trotzdem parallel und hört auch nicht auf. Diesen genannten Satz der Regierungschefin, den will ich ernst nehmen und ihr vorhalten können. Tatsächlich hat unsere Umgebung im Verhältnis zu anderen Umgebungen auch wirklich mal in dem Sinne Asyl gewährt – für kurz jedenfalls. Das signalisiert etwas, und es gibt ja sogar darauf einen Reflex aus England oder Frankreich. Das ist vielleicht nicht viel und das heißt auch nicht, dass die Haltung deswegen geläutert und spitzenmäßig geworden ist, aber es ist trotzdem etwas, das ich auch positiv nennen darf im Moment.
In diesem Zusammenhang noch mal ein Zitat aus der Zeit: Das Werk der Goldenen Zitronen »versteht sich als ein ständiges Update linker Standpunkte und ästhetischer Haltungen«. Sehen Sie das auch so?
Das weiß ich doch nicht. Das muss man anscheinend Die Zeit fragen, die scheint das ja gut beurteilen zu können. Wir versuchen, durch unsere Mittel nicht nur »angewandte Kunst« zu machen, sondern auch das in die Öffentlichkeit zu tragen, was uns am Herzen liegt. Wir probieren das innerhalb von einem Diskurs, aber ich kann und will nicht beurteilen, ob wir gerade sauber an der Spitze dieses Diskurses sind oder nicht. Das wäre auch krampfig auf Dauer.
Zurück zur Platte: Das Album-Information spricht von einer Rekontextualisierung. Bisher hatten Sie eher Ihre künstlerischen Positionen verändert, nicht so sehr das Material. Das ist neu. Sind Sie an einem Ende angekommen und beginnt nun die Bob-Dylan-Phase der Goldenen Zitronen? Oder weniger polemisch gefragt, wo geht die Reise hin?
Diedrich Diederichsen hat nach unserer letzten Platte geschrieben, dass wir eine Trilogie abgeschlossen hätten. Das wissen wir nicht. Wir empfinden erstmal nicht so. Ich für mich spüre aber schon eine große Lust, beim nächsten Mal etwas anderes zu machen. Vielleicht suchen wir noch mal nach einer Formänderung, nehmen an einem anderen Ort auf oder versuchen Perspektiven zu ändern in der Herstellung. Das kann man ja probieren, indem man künstlich eine andere Reibung herstellt. Ich glaube aber nicht, dass wir in unserer Haltung und unseren Aussagen plötzlich völlig gewandelt daherkommen werden. Wir sind uneinsichtige Rechthaberlinge.
Wenn man das neue Album als Maßstab nimmt, dann wäre das eine hermetischere, ästhetischere Arbeit …
… das ist aber ein Zwischenstand, glaube ich …
 … und nicht so sehr eine direkte Reibung an Äußerlichkeiten und dem Zeitgeschehen.
Die Platte ist der Versuch, die vergangenen drei Alben noch einmal anders zu reflektieren und auch anders zu interpretieren. Und es soll eben auch nur das sein: ein bisschen aus der Reihe und nicht etwas völlig Neues.
Stellt sich nach über 30 Jahren Bandgeschichte eine Müdigkeit ein, sich immer an äußeren Entwicklungen reiben zu müssen?
Müdigkeit stelle ich noch nicht fest, eher Wellenbewegungen. Der beste Zugang zu den Dingen lässt sich genauso wenig erzwingen wie eine zeitgemäße Aussage. Aber solange wir interessiert bleiben und etwas davon wiedergeben, ist das möglich. Wir haben schon Bock darauf, uns neu auszusetzen. Mir gefällt es, wie wir es schaffen, ein wenig anders zu wirken, was aber nur geht, wenn wir uns davor bewahren, uns zu sehr zu wiederholen. Damit haben wir schon vor sehr langer Zeit angefangen, das war einer unserer ersten Reflexe auf das größer werdende Business und die sich schnell einstellende Langeweile, wenn jeden Abend alles gleich ist. Die neue Platte ist dafür – etwas blödkunstmäßig ausgedrückt – so etwas wie der Versuch, über Bande zu spielen.
Ich nehme an, die Anspielung auf das Sex-Pistols-Album »Flogging A Dead Horse« ist nicht zufällig. Aber warum ein Frosch?
Wir haben uns gefragt, wen peitschen wir da aus, ist da schon was tot, was kann man da noch einmal ins Hüpfen bringen. Die Antwort war: Die Goldies müssen probieren, ein sich selbst auspeitschendes, zwar festgeklebtes, aber mit aller Macht immer wieder hysterisch aufspringendes Froggy-Kollektiv zu sein. Jetzt wissen wir, dass wir mitteleuropäische Frösche und keine englischen Pferde sind.

Interview: Jesper Petzke

Die Goldenen Zitronen: Flogging A Dead Frog
(Altin Village&Mine/Indigo)