Die ägyptischen Muslimbrüder werden militanter

Zwischen Widerstand und Jihad

Während die ägyptische Armee Touristen statt Terroristen bombardiert, gibt es im Land Spekulationen über einen militanteren Kurs der Muslimbruderschaft.

Es war der bisher folgenschwerste Angriff auf Touristen seit der Machtübernahme des Militärs im Sommer 2013, der sich in der vorvergangenen Woche in Ägyptens westlicher Wüste ereignete, als acht mexikanische Touristen und vier ägyptische Reiseführer bei einem Angriff auf ihren Fahrzeugkonvoi ums Leben kamen. Die Befürchtung, militante Islamisten könnten erneut, wie in den neunziger und nuller Jahren, die Touristenorte des Landes mit Anschlägen heimsuchen, hält Armee und Polizei seit dem Sturz von Präsident Mohammed Mursi in Alarmbereitschaft. Doch ironischerweise scheint der Angriff in der Wüste auf das Konto des Militärs zu gehen. Der genaue Ablauf der Ereignisse konnte noch nicht zweifelsfrei rekonstruiert werden, vieles deutet aber darauf hin, dass die Piloten der ägyptischen Luftwaffe, die den Konvoi aus der Luft angriffen, die Insassen für Terroristen hielten.
Die ägyptische Regierung übte sich in Schadensbegrenzung und schickte eine Delegation zur mexikanischen Botschaft, um dort zum mexikanischen Unabhängigkeitstag zu gra­tulieren. Derweil kursieren widersprüchliche Darstellungen des Angriffs. Stellungnahmen der Armee zufolge war der Konvoi in militärischem Sperrgebiet unterwegs – was die ägyptischen Reiseleiter bestreiten. Bisher blieb die Zahl von Touristen oder Ausländern, die seit der Machtübernahme des Militärs Anschlägen zum Opfer fielen, gering – zumindest im Verhältnis zur Gesamtzahl der Gewalttaten militanter Islamisten seit dem Sommer 2013. Im Februar 2014 starben drei Koreaner bei einem Selbst­mordangriff auf ihren Bus nahe der israelischen Grenze und im Sommer 2014 wurde ein US-Amerikaner getötet, als Jihadisten in der westlichen Wüste sein Auto angriffen. Ein geplanter Selbstmordanschlag auf den Karnak-Tempel in Luxor wurde im Juni 2015 hingegen knapp abgewendet, wobei ein Sicherheitsbeamter und der Attentäter ums Leben kamen.
Dass militante Islamisten nicht nur in Randgebieten des Landes wie dem Nordsinai oder der westlichen Wüste angreifen können, zeigten zwei Anschläge auf hohe Repräsentanten des Staats in Kairo. Der ehemalige Innenminister Mohammed Ibrahim überlebte im September 2013 einen Bombenanschlag auf seine Autokolonne. Der damalige höchste Staatsanwalt des Landes, Hisham Barakat, wurde hingegen im Juni 2015 in der Nähe seines Hauses in Kairo durch eine Autobombe getötet. Zudem explodieren landesweit immer wieder kleinere, improvisierte Sprengsätze, meist vor Polizeistationen oder anderen Einrichtungen des Staats. Doch im Gegensatz zu den fast militärisch koordinierten Angriffen, die Jihadisten im Nordsinai gegen die ägyptische Armee ausführen, werden hinter den kleineren Anschlägen im ägyptischen Kernland meist Sympathisanten der Muslimbruderschaft (MB) vermutet.

Seit der Machtübernahme des Militärs im Sommer 2013 vermuten viele, dass sich Teile der MB einem organisierten, gewaltsamen Kampf gegen den ägyptischen Staat verschreiben könnten, wie dies die Jihadisten im Nordsinai tun. Neuen Auftrieb bekamen diese Vermutungen durch einen Artikel der privaten Zeitung al-Shuruq. Demnach sollen sieben Gruppierungen innerhalb der MB dem sogenannten Islamischen Staat (IS) Loyalität geschworen haben, wie zuvor bereits Teile der Jihadisten im Nordsinai. Die Zeitung bezieht sich in ihrem Artikel auf ehemalige Mitglieder der islamistischen Bewegung. Von anderen Stellen der MB hingegen kommen Dementis. So sagt Abdullah al-Haddad, ein im Exil in London lebender Pressesprecher der MB, die Organisation bleibe bei der von der Führung vorgegebenen gewaltlosen Linie. Doch al-Haddad räumt auch ein, dass die Organisation durch die systematische staatliche Repression gezwungen worden sei, sich zu dezentralisieren, und die alte Führung nicht mehr die Kontrolle über alle Strömungen habe.
Ein beträchtlicher Teil der alten Führungsriege der MB sitzt im Gefängnis, einige fielen der staatlichen Repression zum Opfer. Andere sind ins Ausland geflohen, oft in Länder wie Katar oder die Türkei, deren Regierungen der Organisation wohlgesinnt sind. Deshalb verfügt die Organisation weder über eine einheitliche Führung noch über eine koordinierte Medienstrategie.

So herrschen innerhalb der MB Meinungsverschiedenheiten über den politischen Kurs. Nach der Machtübernahme durch das Militär bildete die Organisation ein Krisenkomitee, doch auch in diesem kam es zu Zerwürfnissen. Die ägyptische Nachrichtenseite Mada Masr zitiert Ahmed Abdel Hamed, ein ehemaliges hochrangiges Mitglied der MB, der sich auf die Forschung über islamistische Gruppen spezialisiert hat. Er beschreibt einen Machtkampf zwischen zwei Strömungen innerhalb des Krisenkomitees. Eine tendiere angesichts der staatlichen Repression zu einer militanteren Rhetorik, während die traditioneller gesinnte alte Führung die offizielle Linie der Gewaltlosigkeit beibehalten wolle. Jene Gruppierungen der islamistischen Bewegung, die dem IS Loyalität geschworen haben sollen, sähen sich hingegen von keiner der beiden Strömungen repräsentiert, so Hamed. Es seien eher jüngere Sympathisanten, die den langjährigen Rekrutierungsprozess der MB noch nicht durchlaufen haben, der Interessenten mit Sympathien für einen militanten Jihad ausschließen soll.
Hamed weist darauf hin, dass die Jihadisten vom IS über beträchtliche Ressourcen verfügen – was sie attraktiv macht für junge Islamisten, die von der gegenwärtigen Machtlosigkeit der MB frustriert sind. Völlig müssten diese dabei mit der MB nicht brechen, so Hamed. Er verweist auf ein Zitat des Gründers der MB, Hassan al-Banna, das sich als Legitimation für einen gewaltsamen Jihad verstehen lässt: »Wir werden Gewalt anwenden, wenn sonst nichts funktioniert.«