Das Dilemma des Vorwahlkampfs

Die letzten Tabus

Hassprediger begeistern die republikanische Basis, doch die Idee des Sozialstaats gewinnt in den USA an Popularität.

Dass ein Katholik niemals der Präsident der USA werden könne, galt in den fünziger Jahren als sicher. Doch 1960 wurde John F. Kennedy gewählt. Noch 1971 sagte Präsident Richard Nixon, die ­Afroamerikaner lebten »wie eine Hundemeute«, aber 37 Jahre später gewann Barack Obama die Wahl. Nun bezweifelt kaum noch jemand, dass auch eine Frau im Weißen Haus regieren kann. Nur Atheismus und Sozialismus gelten weiterhin als Tabus. Wie lange noch?
Als »nicht besonders religiös« und zudem als »demokratischer Sozialist« präsentiert sich Bernie Sanders. Eine wachsende Zahl von Amerikanern fordert Umverteilung sowie höhere Löhne und Sozialleistungen – das ist es, was Sanders unter Sozialismus versteht –, und selbst unter Republikanern sinkt das Interesse an der Frömmelei. Gestritten wird vornehmlich über die Sozial- und Wirtschaftspolitik. Sanders’ Forderungen knüpfen an die Ansätze zum Aufbau eines Sozialstaates an, die es in früheren Jahrzehnten auch unter republikanische Präsidenten gab. Es setzte sich jedoch ein Ersatzmodell durch, die Zahlung von Sozialleistungen über Unternehmensfonds.
Dieses Modell grenzte nicht tarfivertraglich ab­gesicherte Beschäftigte stets aus, nun ist es an der Finanzkrise, der Entindustrialisierung und der Ausbreitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse gescheitert. Die Unzufriedenheit wächst, ebenso die Zahl der Streiks im Dienstleistungssektor, doch die Gewerkschaften, die traditionell die Demokraten unterstützen, sind weiterhin geschwächt. In der Privatwirtschaft vertreten sie nur noch etwa sieben, unter den Staatsangestellten 25 Prozent der Beschäftigten. Auch deshalb wettern die Republikaner gegen big government. Für sozialen Fortschritt kämpfen in den Institutionen derzeit vor allem Angehörige der ­intellektuellen Mittelschicht; daher die republikanischen Angriffe auf die »politische Korrektheit«, die mit diesem Milieu identifiziert wird.
Der neue culture war wird mit Zoten statt mit Gebeten geführt. Ohne Umschweife bekennen die Rechtspopulisten, wen sie hassen: Gewerkschafter, Migranten, selbstbewusste Frauen und alle, deren Horizont weiter ist als der ihre. Um einen culture war handelt es sich auch insofern, als die Klassenstandpunkte nicht eindeutig sind. Aufgeklärte Repräsentanten der Geschäftswelt unterstützen »Obamacare«, weil sie gesunde Arbeitskräfte brauchen, und sie wollen nicht, dass zu hohe finanzielle Hürden ihr Humankapital von den Universitäten fernhalten. Reaktionäre Lohnabhängige hingegen lieben den Einzelkämpfermodus und sind entsetzt von der Vorstellung, ihre Tochter könnte eine Migrantin heiraten.
Der Mangel an seriösen Kandidaten bei den Republikanern ist ein Ausdruck der Schwäche der wirtschaftliberalen und gesellschaftpolitisch konservativen Kräfte. In den Vorwahlen wird sich zeigen, ob die Rechtspopulisten die Partei auf unabsehbare Zeit ruiniert haben. Doch auch wenn Hillary Clinton, die bei den Vorwahlen nur scheitern kann, wenn ihr wegen der E-Mail-Affäre ernsthafte rechtliche Konsequenzen drohen, es weniger leicht hat, dürfte sie die Wahl gewinnen. Da Gewerkschafts- und Bürgerrechtsbewegung ungleich schwächer sind als in den Jahrzehnten der großen Reformen, wird es für einen Präsidenten Sanders und einen New Deal 2.0 diesmal nicht reichen. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis die letzten Tabus fallen.