Pedro Monaville im Gespräch über belgischen Kolonialismus und Erinnerungskultur

»Kolonialgeschichte ist schwach institutionalisiert«

1884/85 wurde auf der Kongokonferenz in Berlin die Grundlage für die koloniale Aufteilung Afrikas gelegt. Der belgische König Leopold II. erhielt damals ein riesiges Gebiet im Kongobecken als Privatbesitz, den sogenannten Kongo-Freistaat. Für die Kautschuk- und Elfenbeinproduktion ließ er die Bevölkerung mittels Zwangsarbeit brutal ausbeuten. Die Zahl der Todesopfer wird auf bis zu zehn Millionen geschätzt, was beinahe der Hälfte der dama­ligen Bevölkerung entspräche. Nach internationalen Protesten gegen die »Kongogräuel« sah sich Leopold II. 1908 gezwungen, seine Privatkolonie an den belgischen Staat zu übergeben. Doch auch in Belgisch-Kongo, wie das Land bis zur Unabhängigkeit 1960 hieß, herrschten Rassismus und ökonomische Ausbeutung. Die Jungle World sprach mit Pedro Monaville darüber, wie heute in Belgien mit der kolonialen Vergangenheit umgegangen wird. Der Historiker forscht zur belgischen Erinnerungskultur und der Geschichte des ­Kongo.

Welche Bedeutung hat die Erinnerung an den Kolonialismus im Belgien der Gegenwart?
Noch in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts existierte eine Art kollektive Amnesie. Heute aber gibt es weitaus mehr Bewusstsein über die Geschichte des belgischen Kolonialismus. Das liegt auch an den vielen Filmen, Büchern, Kunstprojekten und öffentlichen Diskussionen dazu in den vergangenen Jahren. Vor allem die Gräueltaten unter Leopold II. geraten dabei in den Blick. Doch auch die Kolonialherrschaft nach Leopold wird immer öfter zum Thema.
Belgien ist ein sehr heterogenes Land. Welche Unterschiede in der Erinnerung gibt es zwischen den Niederländisch sprechenden Flamen und den frankophonen Wallonen?
Als König Leopold II. 1885 seine Privatkolonie erhielt, fing das frankophone belgische Bürgertum an, im eigenen Land sozial und kulturell zu dominieren – gegenüber den mehrheitlich Flämisch sprechenden Bevölkerungsgruppen im ländlichen Norden sowie über den vorwiegend Französisch sprechenden Proletariern im Süden. Zwar übten die Arbeiterbewegung und flämische Nationalbewegungen während der gesamten Kolonialherrschaft bedeutenden Einfluss auf die belgische Politik aus. Doch viele Flamen verbanden den belgischen Kolonialismus mit der Durchsetzung der Frankophonie im eigenen Land. Deshalb haben flämische Nationalisten stärker dazu geneigt, die Kolonialherrschaft in Afrika zu kritisieren. Gelegentlich wurde sogar argumentiert, die Flamen seien ebenso wie die Kongolesen Opfer verschiedener Formen des belgisch-frankophonen Kolonialismus.
Und welche Rolle spielen Altersunterschiede?
Die Älteren – und vor allem diejenigen, die persönliche Erfahrungen im Kongo gemacht haben – tendieren dazu, die koloniale Vergangenheit vollkommen unkritisch zu sehen und eine paternalistische Haltung einzunehmen. Einige behaupten immer noch, die zahlreichen Massenmorde, Geiselnahmen, Verstümmelungen und Vergewaltigungen unter Leopold hätte es nie gegeben, sondern sie seien eine Erfindung der Briten gewesen, aus Neid auf den königlichen Besitz. Zudem verweisen die Älteren nicht selten in rassistischer Manier auf den Beitrag des Kolonialismus zur Bildung und Gesundheit der angeblich unzivilisierten Afrikaner – der Brutalität im Kongo-Freistaat und auch der späteren ökonomischen Ausbeutung zum Trotz. Das Interesse am Wohlergehen der einheimischen Bevölkerung gewann aber nur in letzten Jahren der Kolonialherrschaft an Bedeutung, als die Belgier massiv in die ökonomische Infrastruktur investierten, Schulen und Krankenhäuser bauten sowie vor allem in städtischen Gebieten zahlreiche Wohlfahrtsprogramme einführten.
Die jüngeren Belgier hingegen prangern eher die gesamte belgische Kolonialherrschaft an. Dabei unterscheiden sie oft gar nicht zwischen den beiden Phasen. Verallgemeinerungen sind aber auch hier schwierig, so dürften Kolonialapologeten etwa auch unter jungen Konservativen Gehör finden.
Welche Formen nimmt die Erinnerung bei Belgiern mit kongolesischem Hintergrund an?
Der überwiegende Teil blickt auf beide Perioden des Kolonialismus natürlich äußerst kritisch. Im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen ist man hier weitaus sensibler. Das liegt an persönlichen Erfahrungen mit Rassismus und auch an der weiten Verbreitung des kongolesischen Nationalismus. Beide Phasen des Kolonialismus sind heute auch Bezugspunkt für progressive Aktivisten, die versuchen, People of Color in Belgien zu politisieren. Auch in der Popkultur ist das Thema präsent, vor allem bei HipHop-Musikern mit kongolesischen Wurzeln wie Pitcho Womba Konga und Baloji.
Manche Belgier mit kongolesischen Wurzeln vertreten eine strategische Nostalgie gegenüber der späteren Phase des Kolonialismus: Sie sind sich dessen negativer Seiten deutlich bewusst, die sie teils noch direkt erlebt haben, und dennoch heben sie positiv wahrgenommene Aspekte der späten kolonialen Entwicklungspolitik hervor, um die heutigen Verhältnisse im Kongo zu kritisieren. Das Land ist trotz des Rohstoffreichtums von großer Armut, einer niedrigen Lebenserwartung, schlechtem Zugang zu sauberem Wasser und Elektrizität, Gewalt und einer so korrupten wie ineffizienten Regierung geprägt.
Wie diskutieren belgische Historiker über den Kolonialismus?
Unter Fachhistorikern herrscht zwar klarer Konsens darüber, dass es die Repressionen, Massaker und Tötungen unter Leopold II. gegeben hat. Doch da deren Geschichte meist in außerhalb der Universitäten produzierten Büchern und Dokumentarfilmen erzählt wurde, konzentrieren sich die Historiker eher auf Fragen, die in diesen populären Narrativen ausgelassen werden, vor allem auf die koloniale Geschichte nach 1908. Deshalb fehlt immer noch eine vollständige Darstellung der kolonialen Gewalt unter Leopold II. durch einen belgischen Fachhistoriker. Leider ist die gesamte koloniale Geschichte an belgischen Universitäten nur schwach institutionalisiert. Es arbeitet kaum jemand auf diesem Gebiet, und meist wird nur in belgischen und nicht auch in kongolesischen Archiven geforscht. In der universitären Lehre wird das Thema – ebenso wie in den Schulen – immer noch sehr selten behandelt.
Was waren die wichtigsten Kontroversen unter belgischen Historikern?
Die bedeutendste Kontroverse betraf die Darstellung des Gewaltregimes unter Leopold als genozidär – eine Position, die etwa der US-amerikanische Journalist Adam Hochschild in seinem Buch »King Leopold’s Ghost« (1998) vertritt. Die belgischen Historiker, die einen Vergleich mit dem Holocaust zurückwiesen, lagen in meinen Augen nicht falsch. Doch wo versucht wurde, den frühen belgischen Kolonialismus nuancierter darzustellen, vernachlässigte man oft dessen Grausamkeit.
Die zweitwichtigste Kontroverse war die langjährige Diskussion über die Rolle Belgiens bei der Ermordung von Patrice Lumumba 1961, den ersten Ministerpräsidenten des unabhängigen Kongo. Inzwischen ist ein Fortschritt erkennbar. Die historischen Arbeiten der vergangenen Jahre haben deutlich gemacht, dass Belgien Verantwortung für die Ermordung trug: Lumumba wurde von seinen afrikanischen Feinden in der sezessionistischen kongolesischen Provinz Katanga umgebracht, doch in der Kette derjenigen, die seine Tötung ermöglichten, waren unter anderem der belgische König Baudouin, der belgische Ministerpräsident Gaston Eyskens, einige Regierungsmitglieder und Belgier vor Ort.
Hintergrund war die Furcht, dass Lumumba den unabhängigen Kongo in einen kommunistischen Staat verwandelt. Zudem übte Lumumba öffentlich und bereits bei der Unabhängigkeitszeremonie scharfe Kritik an der belgischen Herrschaft, was viele als unvergessliche Beleidigung empfanden. Anfang der Sechziger war man deshalb in Belgien vom König über den Ministerpräsidenten bis weit in die Bevölkerung regelrecht besessen von Lumumba. Die belgische Regierung unternahm sehr viel, um ihn politisch loszuwerden. Durch die Mobilisierung von kongolesischen Politikern gegen Lumumba etwa trug sie zu einem Klima bei, das die Ermordung ermöglichte. Ein weiteres Beispiel: Obwohl dem belgischen Ministerpräsidenten, Mitgliedern seiner Regierung sowie Belgiern vor Ort klar war, dass Lumumba in Katanga mit Sicherheit ermordet werden würde, intervenierten sie nicht.
Ist Lumumba eine Referenz für postkoloniales Erinnern in Belgien?
In Brüssel etwa versucht eine kleine Gruppe seit langem, einen Platz im Afrikanischen Viertel nach Lumumba umbenennen zu lassen. Dass ihnen dies bislang nicht gelang, verdeutlicht den Widerstand der belgischen Gesellschaft, die dunkle Vergangenheit anzuerkennen. Es existieren immer noch viele Denkmäler und Straßennamen in Belgien, die positiv oder unkritisch auf den Kolonialismus verweisen.
Der wohl wichtigste Erinnerungsort ist das Königliche Museum für Zentralafrika in Brüssel.
Ja. Das Museum wurde 1887 gebaut, um Leopolds Kolonie in der belgischen Öffentlichkeit beliebt zu machen. In den vergangenen Jahren wurde zwar versucht, den kolonialen Charakter des Museums aufzuzeigen, etwa durch Ausstellungstafeln zur Geschichte des Museums, der Zusammensetzung der Sammlung und der Darstellungslogik. Doch es ist fraglich, ob diese Versuche auch Auswirkungen auf die Öffentlichkeit hatten. Das Museum wird 2017 mit neuer Konzeption wiedereröffnet. Allerdings ist zu bezweifeln, dass das Museum nach seinem Umbau zu einem Ort wird, der die Kritik am Kolonialismus unterstützt.