Deutschland will verwertbare Flüchtlinge

Willkommen, billige Arbeitskräfte

Noch immer ertrinken viele Flüchtlinge im Mittelmeer auf dem Weg nach Europa. Die Unterbringung für Tausende von Asylsuchenden in Deutschland ist noch immer weitgehend unorganisiert. Während für die dringendsten humanitäre Probleme bislang keine Lösungen gefunden sind, diskutiert die deutsche Politik bereits über den eigenen Arbeitsmarkt. Die Auswirkungen der Zuwanderung werden skeptisch betrachtet.

Der deutsche Landkreistag brachte Anfang September ein Positionspapier zur »Integration von Flüchtlingen mit Bleibeperspektive« heraus. Darin wird der Vorschlag gemacht, Asylbewerber kurzfristig auch unterhalb der Mindestlohngrenze beschäftigen zu können, oder, wie es in dem Text heißt: Es müsse geprüft werden, ob »zeitlich begrenzte Ausnahmen vom Mindestlohn möglich sind«. Dies würde integrativ wirken und den Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge erleichtern. Darüber müsse die Bundesregierung nachdenken, forderte auch der Präsident des Wirtschaftsrats der CDU, Werner Michael Bahlsen, in einem Interview in der Tageszeitung Die Welt.
Gewerkschaftsvertreter und einige Linke sehen darin jedoch ein Mittel zum Lohndumping und befürchten, dass mit diesem Vorschlag ein Keil zwischen die Lohnabhängigen getrieben werden soll. Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Reiner Hoffmann, stellte in einem Interview klar, dass eine Ausnahmeregelung vom Mindestlohn für Asylbewerber von den Gewerkschaften nicht akzeptiert werde. Ähnlich äußerten sich die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, Oppositionsvertreter sowie Bundearbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Schließlich gilt der Mindestlohn als sozialdemokratisches Aushängeschild. Der 2014 beschlossene Deal zwischen Gewerkschaften und Regierung lautete: Die Gewerkschaften bekommen ihren Mindestlohn und die Unternehmer bekommen im Gegenzug ein Gesetz über die Tarifeinheit. Der Mindestlohn, der von Ausnahmen bereits durchlöchert ist, soll nun nicht noch weiter zurückgenommen werden. Zwar kritisierte der Verdi-Bundesvorsitzende Frank Bsirske bereits bei der Einführung, dass Ausnahmen beim Mindestlohn »nicht sinnvoll« seien, allerdings blieb es seitens der etablierten Gewerkschaften bei diesem folgenlosen Einspruch. Und auch die noch immer offenen Forderung nach weiteren Ausnahmen und Übergangsfristen sind nicht Gegenstand der Diskussion. Das traditionell enge Verhältnis der Gewerkschaften zur SPD, das seit der Agenda 2010 einigen Schaden genommen hat, wird nun durch die demonstrative Einigkeit wieder gestärkt. Eine weitere Aushöhlung des Gesetzes werden die Gewerkschaften mit ihrer defensiven Strategie jedoch nicht verhindern.

In den Bundesländern wird der Vorschlag des Landkreistags bereits wohlwollend diskutiert. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) forderte vergangene Woche eine Sonderlösung für die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt. Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer äußerte gegenüber der Taz bereits seine Bedenken: »Die Schmerzgrenze der ganzen deutschen Gesellschaft wird sich bald zeigen. Denn es kommen eben nicht nur Ingenieure und Akademiker zu uns, sondern weitaus mehr Analphabeten. Wir werden einen harten Konkurrenzkampf erleben um Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen, aber auch um Wohnraum mit dem unteren Fünftel der jetzigen Gesellschaft.«
Zuspruch artikulierte der konservative Ökonom Hans-Werner Sinn in der Wirtschaftswoche. Generell kein großer Freund von angeblich wettbewerbsverzerrenden Bestimmungen wie Mindestlohn und Transferleistungen, erhebt der Leiter des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung an der Universität München (Ifo) die Aussetzung von ersterem für Asylbewerber zur Voraussetzung gelungener Willkommenskultur. Zwar seien die Flüchtlinge durchaus verwertbar, angesichts ihrer überwiegend niedrigen Qualifikationen könnten sie jedoch ihre Arbeitskraft nur zu Dumpingpreisen auf dem Arbeitsmarkt verkaufen. Die Jobs am untersten Ende des Niedriglohnsektors würden den Asylbewerbern dann nicht nur vermitteln, dass sie hier willkommen seien. Sie würden ihnen zugleich helfen, jenes Wissen zu erwerben, welches sie brauchen, um zum Sozialprodukt beizutragen und die durch ihre Versorgung verursachten Kosten zu begleichen. Das Institut plädiert deshalb dafür, den Mindestlohn generell abzusenken. Gleichzeitig sprachen sich Sinn und seine Kollegen dagegen aus, die Hartz-IV-Regelsätze anzuheben. Ihrer Auffassung nach könnte sich der Anreiz für Migranten, eine Arbeitsstelle anzutreten, dadurch verringern.
Es braucht jedoch nicht den Zynismus eines neoliberalen Ideologen wie Sinn für die Vermutung, dass das deutsche Kapital verstärkte Einwanderung als willkommene Gelegenheit sieht, die Lohnkosten weiter zu drücken. Bestärkt wird diese Vermutung auch durch die Ankündigung des Finanzministers Wolfgang Schäuble, eigentlich zur Kontrolle der Einhaltung der Mindestlöhne vorgesehene Zollbeamte nun zur Registrierung und Betreuung von Flüchtlingen einzusetzen. Damit demonstriert die Bundesregierung, dass die lückenlose Überprüfung der Mindestlöhne, zumindest solange der Andrang von Flüchtlingen anhält, für den Staat keine Priorität mehr darstellt.
Oft wird auch die demographische Entwicklung Deutschlands als Argument zur Aufnahme von Asylbewerbern angeführt. Das überalternde Deutschland brauche für zukünftige Verwertungsprozesse taugliche Arbeitskräfte, wofür sich die mehrheitlich jungen Flüchtlinge geradezu anbieten würden. Zu diesem Ergebnis kommt auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in einer aktuellen Stellungnahme. Eine Nettozuwanderung von 200 000 Menschen jährlich könne der Überalterung Deutschlands entgegenwirken, heißt es dort. Zugleich werden für Asylsuchende weniger staatliche Leistungen aufgebracht als für das heimische Subproletariat, was aus wirtschaftlicher Sicht zusätzlich für die kontrollierte Aufnahme von Flüchtenden spricht. Der Vorstandsvorsitzende der Daimler AG, Dieter Zetsche, brachte dies jüngst auf den Punkt, als er die Flüchtlinge als mögliche Grundlage des nächsten deutschen Wirtschaftswunders ausmachte. Wer sein komplettes Leben zurücklasse, um nach Deutschland zu kommen, sei schließlich hochmotiviert. Solche Leute suche man bei Mercedes, so Zetsche.

Es gibt jedoch auch andere Standpunkte, die innerhalb der ökonomischen Debatte um Asyl vertreten werden. Der Ruf nach Senkung oder Aussetzung des Mindestlohns für Flüchtlinge ist nicht nur ein Vorwand, um die Lohnkosten für das Kapital zu senken. Es bestehen auch bei einigen Ökonomen und Politikern ernsthafte Bedenken, ob die Integration der Asylbewerber, auch wenn sie langfristig als Chance gilt, kurzfristig zu einer zu großen Belastung für den deutschen Staatshaushalt führen könne. Zu einer solchen Einschätzung kam das Ifo kürzlich in einer Pressemitteilung, in der es heißt, dass die Vorteile für die deutsche Volkswirtschaft durch die Integration von Flüchtlingen »durch erhöhte Arbeitslosigkeit und Nettotransfers an die Migranten überkompensiert« werden würden. Von diesem rein staatsökonomischen Standpunkt aus betrachtet ist es daher keineswegs irrational, wenn sich die deutsche Politik vor allem darauf konzentriert, »Fehlanreize« für Flüchtlinge aus der Welt zu schaffen, Krisenregionen zu sicheren Herkunftsländern zu erklären und Abschiebungen zu beschleunigen. Diejenigen, die dann dennoch einen positiven Bescheid bekommen, sollen anschließend schnell zum Sozialprodukt beitragen, um keine unnötigen Kosten zu verursachen. Der Vorschlag des Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel, Asylbewerber, die in Deutschland eine Lehre machen, auch bei negativem Bescheid zumindest für ein oder zwei Jahre noch in Deutschland arbeiten zu lassen, ist in diese Richtung zu deuten. Dass sich die CDU gegen diesen Vorschlag wendet, zeigt, dass sich bei der Vermittlung zwischen den beiden Leitmaximen – »Fehlanreize« zu beseitigen und gleichzeitig das ökonomische Potential der Flüchtenden auszuschöpfen – einige Widersprüche auftun, die den schwankenden Kurs der Regierung sowie die Polarisierung der Debatte verständlicher machen.
Dazu kommt noch der europapolitische Aspekt. Schließlich wird die deutsche »Willkommenskultur« auch als moralischer Führungsanspruch in der Frage einer gesamteuropäischen Quotenregelung geltend gemacht, die selbstverständlich maßgeblich von der Bundesregierung gestaltet werden soll. Welchen Vermittlungsweg zwischen einzelunternehmerischen Bedürfnissen, gesamtgesellschaftlicher Wirtschaftsprognostik und europäischem Hegemonieanspruch die Bundesregierung schließlich einschlagen wird, ist vorerst noch offen.