Droht eine neue Intifada in Israel?

Eine Frage der Semantik

In Israel häufen sich Anschläge auf jüdische Israelis. Einige befürchten eine dritte Intifada.

Kommt sie oder kommt sie nicht? Oder befinden wir uns bereits mittendrin? Derzeit gibt es in Israel angesichts des derzeitigen Ausmaßes palästinensischer Gewalt eine lebhafte Debatte darüber, ob der jüdische Staat mit einer neuen Intifada konfrontiert ist. Sie hätte nicht erst vor wenigen Tagen begonnen – wenn man einen Blick auf die Statistiken der Sicherheitsbehörden wirft, dann ist das Phänomen bereits seit über einem Jahr virulent: Gemeint ist die Gewalt gegen israelische Zivilisten. Mal ist ein Fahrzeug, ein Schlachtermesser oder ein Schraubenzieher die Waffe, mal werden Steine auf die Straßenbahn in Jerusalem geworfen oder Molotow-Cocktails. Die oftmals tödlichen Attacken finden sowohl in den besetzten Gebieten statt als auch in den israelischen Metropolen. »Was wir derzeit beobachten, ist nicht unbedingt neu«, heißt es dazu seitens der Armee. »Es sind immer wieder Einzelpersonen, die als Angreifer in Erscheinung treten. Im Regelfall agieren sie individuell und zumeist ohne die Unterstützung einer Terrororganisation oder eines Netzwerks. Das stellt die Arbeit der Sicherheitsorgane vor ganz neue Herausforderungen.« Nur selten, wie im Fall von Naama und Eitam Henkin, die am 1. Oktober in der West Bank in der Nähe von Nablus in ihrem Auto vor den Augen ihrer vier Kinder ermordet wurden, stand eine Zelle der Hamas oder des Islamischen Jihads dahinter. Auch das Täterprofil der »Einsamen Wölfe«, wie einige Sicherheitsexperten sie nennen, ist diffuser als einst, sowohl Frauen als auch Männer jeglichen Alters und Herkunft treten dabei in Erscheinung.

Die Reaktionen der israelischen Verantwortlichen beschränken sich bis dato auf eine Verschärfung bereits bekannter Maßnahmen. Die Strafen für Steinewerfer sollen drastisch erhöht werden und die Armee darf nun die Häuser von Familien, aus denen Attentäter stammen, schneller zerstören. Ferner entsteht ein Netz von Kameraanlagen entlang der Straßen in den besetzten Gebieten. »Wir werden die Sicherheit wiederherstellen«, verkündete Benjamin Netanyahu und nannte dabei den Islamischen Jihad als Drahtzieher der jüngsten Anschlagsserie. »Wir werden diese Welle des Terrors stoppen, wie wir bereits frühere Wellen des Terrors gestoppt haben.« In deutschen Medien wurden die Ankündigungen des Ministerpräsidenten auf die martialische Formel »Kampf bis zum Tod« verkürzt und Warnungen an die eigenen Extremisten gar nicht erst erwähnt. »Ich werde es ebenso wenig tolerieren, wenn israelische Staatsbürger den Hass weiter anschüren«, so Netanyahu weiter. Verteidigungsminister Moshe Ya’alon riet Israelis ausdrücklich davon ab, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen. Viel geholfen hat das nicht, am Freitag voriger Woche begann ein jüdischer Israeli in Dimona im Negev einen privaten Rachefeldzug und ging mit einem Messer auf drei Palästinenser und einen Beduinen los.
Netanyahus Ankündigungen haben die Zweifel vieler Israelis an der Handlungsfähigkeit der Verantwortlichen eher bestärkt. »Jetzt haben wir schon eine rechte Regierung und die weiß auch nicht wirklich, was zu tun ist«, bringt Matan Hershkovitz* diese Haltung auf den Punkt. »Es fehlt einfach an Konzepten oder Ideen«, so der 30jährige Salesmanager aus Herzliya zur Jungle World. »Alle bemühen sich verzweifelt, die Situ­ation irgendwie als harmlos darzustellen. Und das ist sie schon lange nicht mehr.«
Allein am Mittwoch und Donnerstag vergangener Woche gab es acht Messerattacken auf Israelis, fast im Stundenrhythmus ereignen sich neue. Jerusalems Bürgermeister Nir Barkat empfahl daher allen jüdischen Einwohnern der Stadt, die eine Waffe besitzen, diese auch bei sich zu haben, wenn sie das Haus verlassen. »Nach ­einem richtigen Plan sieht das auch nicht aus«, meint Hershkovitz. Dennoch konnte das rasche Eingreifen bewaffneter Passanten bereits Schlimmeres verhindern. So am Donnerstag voriger Woche, als in unmittelbarer Nähe der Kirya, dem Kommandozentrum der israelischen Streitkräfte in Tel Aviv, ein Palästinenser aus Jerusalem eine 19jährige Soldatin zu Boden warf und mit einem Schraubenzieher auf ihren Kopf einstach und auch vier weitere Passanten verletzte. Ein zufällig anwesender Luftwaffenleutnant vertrieb und erschoss den Angreifer. Die fünf Opfer überlebten.
In der Kirya diskutierte Netanyahu vergangene Woche mit hochrangigen Vertretern des Militärs die Sicherheitslage. »Haben wir es mit einer dritten Intifada zu tun?«, fragte er in die Runde, die Antwort lautete einhellig: »Nein.« Auch andere hohe Politiker wie Tzachi Hanegbi, Vorsitzender des Knesset-Komitees für Auswärtige Angelegenheiten und Verteidigung, wiederholte im Fernsehen das offizielle Mantra: »Es gibt derzeit keine dritte Intifada.«

»Als ob der Name einen Unterschied machen würde«, kommentierte die Kolumnistin Sima Kadmon in der Tageszeitung Yedioth Achronot den Eiertanz um den Begriff »Intifada«. »Die Beharrlichkeit der Verantwortlichen, etwas, das wie eine Intifada aussieht und sich auch wie eine verhält, einen anderen Namen zu geben, erinnert doch sehr an das bekannte Schema, sogar einen Krieg wie 2006 im Libanon oder jüngst in Gaza lediglich als ›Operation‹ zu bezeichnen.« Selbst wenn es derzeit noch keine seriellen Selbstmordanschläge gibt, die während der Zweiten Intifada Hunderte von Opfern unter Israels Zivilbevölkerung forderten und das Militär zum massiven Eingreifen in palästinensischen Städten wie Jenin oder Nablus zwang, so verweisen die Ereignisse der vergangenen Tage auf eine neue Dimension der Bedrohung.
Seit Wochen schon schwelt der Konflikt am Tempelberg in Jerusalem, ausgelöst durch Gerüchte, Israel werde den Status quo ändern und Juden das Beten auf dem für Muslime heiligen Areal erlauben oder gar die al-Aqsa-Moschee zerstören. Selbst die wiederholten Erklärungen der Regierung, dass sie keinesfalls diese Absicht habe und alles unternehme, Extremisten am Zutritt zu hindern, konnten die Situation nicht entspannen. Offiziell ist es jüdischen Tempelberg-Aktivisten wie Yehuda Glick seit geraumer Zeit genauso untersagt, das Gelände zu betreten, wie islamistischen Scheichs wie Raad Salah und Kamal Khatib.
Der Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, verhielt sich bis dato ambivalent, wie so oft. Zwar schlug er sich verbal auf die Seite der muslimischen Demons­tranten in Jerusalem und kündigte vor der UN-Vollversammlung vergangene Woche sogar den Ausstieg aus dem Friedensprozess von Oslo an, was nicht gerade hilfreich war. Doch vor einem Aufruf zu einer neuen Intifada schreckt Abbas noch zurück – wohl wissend, dass er aufgrund mangelnder Popularität schnell die Kontrolle über die Ereignisse verlieren würde und am Ende vielleicht sogar seine Rivalen das Sagen haben könnten.

Netanyahus politische Gegner haben sich dagegen schon lauthals zu Wort gemeldet. Der Ministerpräsident sei nur ein schwacher Politiker, er agiere wie ein schlechter Schauspieler und müsse deshalb zurücktreten, erklärte Oppositionsführer Yitzhak Herzog vom linksbürgerlichen Zionistischen Lager anlässlich eines Besuches in Jerusalem genau an der Stelle, wo kürzlich zwei orthodoxe Juden ermordet worden waren. »Wir wüssten schon, was zu tun ist, um die Situation zu beruhigen, wenn wir an der Regierung wären«, so Herzog. Welche Pläne er in petto hätte, blieb jedoch sein Geheimnis. Der ehemalige Außenminister Avigdor Lieberman von der nationalistischen Partei Israel Beitenu, die bei den letzten Wahlen der große Verlierer war, beschimpfte die Regierung als einen Haufen Schwächlinge und forderte gleich den Einmarsch in Gaza.
Selbst in Netanyahus Koalition rumort es kräftig, weil die Regierung anders handelte als früher und beispielsweise als Antwort auf palästinen­sische Gewalt nicht mit dem Ausbau von Siedlungen in den besetzten Gebieten reagiert hat. Sollten sich alle Verantwortlichen irgendwann auf eine Bezeichnung für die derzeitige Anschlags­serie einigen, beschäftigen sie sich vielleicht mit einer Lösung des Problems. Hamas und Islamischer Jihad haben mittlerweile explizit zur Intifada aufgerufen.

* Name auf Wunsch geändert.