Was wäre geschehen, wenn die katharischen Ketzer die Kreuzzügler zurückgeschlagen hätten?

Teufels Werk und Ketzers Beitrag

Propagandisten des Zentralstaats und Separatisten berufen sich gleichermaßen auf angeblich historisch gewachsene nationale Identitäten. Aber der Prozess der Staatenbildung in Europa hätte auch ganz anders verlaufen können.

Viele kommen nur wegen der schönen Aussicht und bringen ihre Picknickkörbe mit. Doch Hunderte warten an diesem Sonntag Anfang Oktober stundenlang vor der Kirche des Bergklosters Montserrat, um zur Schwarzen Madonna vorgelassen zu werden. Der Kult um La Moreneta, die »kleine Dunkle«, ist von großer Bedeutung für den konservativen katalanischen Nationalismus. Das Kloster von Montserrat bewahrte die katalanische Sprache während des Franquismus und gewährte katalanischen Dissidenten Asyl. Christlicher Separatismus in Opposition zum zentralistischen Klerikalfaschismus, beides unter Berufung auf die gleiche Universalreligion – die Wege des Herrn sind unergründlich.
Nicht zufällig gehörte Spanien zu den letzten Bastionen des christlichen Obrigkeitsstaats. Die Inquisition war die kirchliche Reaktion auf eine religiöse Bewegung, die auch Katalonien erfasst hatte. Sie hinterließ keine Sakralbauten, erhalten blieben nur die Ruinen der Festungen einiger ihrer adligen Beschützer, etwa im Pyrenäendorf Gósol nahe der Grenze zu Frankreich. Vor 800 Jahren aber waren die Katharer von Skandinavien bis Spanien, von England bis Bulgarien verbreitet – die größte innere Herausforderung für das katholische Europa vor der Reformation. Sie hätten gewinnen, Montserrat hätte zur Ruine verfallen und Gósol ein bedeutender Wallfahrtsort werden können, wenn sich die Dinge damals anders entwickelt hätten.
Propagandisten der bestehenden Staaten und Separatisten bedienen sich gleichermaßen mythologischer Erzählungen, um die von ihnen gewünschten Grenzen als natürlich und gerecht erscheinen zu lassen. Die angebliche nationale Identität wird dann in ferne Zeiten zurückprojiziert. Welcher Adelige sich zum absolutistischen Herrscher aufschwingen konnte und welcher Konkurrent ihm dann zähneknirschend den Wein einschenken musste, war jedoch abhängig von komplexen Intrigen und Kriegszügen. Katalonien hätte auch ein Teil Frankreichs werden können oder nach einem Sieg der Katharer Teil eines Staates, der es mit Südfrankreich und Norditalien vereint. Eine nationale Identität ließe sich auch dafür erfinden.
Die Katharer, die »Reinen«, gehörten zu den religiösen Oppositionsbewegungen des Mittelalters. Die meisten Ketzerbewegungen – der Begriff Ketzer ist eine Ableitung von Katharer – waren nur antiklerikal, sie richteten sich vor allem gegen den Reichtum des Klerus, stellten die Grundsätze des Christentums aber nicht in Frage. Die Katharer hingegen vertraten in unterschiedlicher Radikalität – schnell entwickelten sich Fraktionen – eine dualistische Weltsicht: Nicht Gott, sondern der Teufel habe die Welt erschaffen. Das Ziel der wahren Gläubigen, die sich als gefallene Engel verstanden, waren die Überwindung der Welt und die Rückkehr zu Gott.

Die Ansicht, dass ein barmherziger Gott eine etwas freundlichere Welt hätte erschaffen müssen, ist naheliegend. Um humanistische Schöpfungskritik ging es den Katharern jedoch nicht, vielmehr standen sie in der antiken Tradition der Gnostik, die auch das Christentum beeinflusste. Die Überwindung der Welt erfordert Askese und geht einher mit der Ablehnung von allem, was mit Sinnlichkeit und Fortpflanzung zu tun hat.
Die Bewegung war straff und hierarchisch organisiert. Den hohen Anforderungen des asketischen Lebens musste nur die spirituelle Elite der perfecti, der katharischen Geistlichkeit, genügen. Den einfachen Gläubigen (credentes) hingegen war es gestattet, weiterhin weltlich zu leben. Sie konnten durch das consolamentum, eine Art Sterbesakrament, erlöst werden. Gerade weil die Katharer die Welt so vehement ablehnten, ohne sich von ihr lösen zu können, bot ihre Lehre Möglichkeiten zur Verweltlichung. Wenn die Schöpfung ein Werk Satans ist, mit dem man eigentlich gar nichts zu tun haben darf, kommt es auf Details nicht so sehr an. Galt ehelicher Sex zwecks Fortpflanzung ebenso sündhaft wie jegliche Wollust, konnten die credentes sich Freiheiten gönnen. In ökonomischer Hinsicht war bedeutsam, dass die Katharer die Zinsnahme erlaubten.
Credentes gab es in allen sozialen Schichten. Die Armen zog die Ablehnung von Reichtum und Prachtentfaltung an. Adelige nutzten eine Lehre, die es ihnen ermöglichte, sich dem beginnenden Absolutismus zu widersetzen. Kaufleute fanden Gefallen an einer Religion, die die Zinsnahme nicht verbot. Alle freuten sich über eine Geistlichkeit, die keinen Zehnt verlangte. Entscheidend war – wie etwa 300 Jahre später für den Erfolg Luthers – die Unterstützung des Adels. Sie war in Südfrankreich am stärksten, aber auch in den norditalienischen Städten von Bedeutung.
Die wichtigsten Helfer der Katharer waren die Grafen von Toulouse, sie verbündeten sich mit den Königen von Aragon, die auch das Gebiet des heutigen Kataloniens regierten. Ihr gemeinsames Heer wurde 1213 bei Muret geschlagen, doch der vier Jahre zuvor begonnene Kreuzzug gegen die Katharer dauerte noch bis 1229. Der Sieg der Kreuzfahrer war nicht selbstverständlich, denn die mittelalterliche Kriegsführung war eine chaotische Angelegenheit. Jeder Adelige war seinem Lehnsherrn zu militärischen Dienstleistungen in einem festgelegten Ausmaß und der Kirche zu Gehorsam verpflichtet. Eine gut gesicherte Festung musste langwierig ausgehungert werden, unterdessen konnte die Dienstpflicht der Vasallen ablaufen, eine Seuche konnte die Zahl der Krieger schnell vermindern. Überdies sind Vasallentreue und heilige Eide eine, Interessen eine andere Sache. Es gab zudem eine Tendenz zu religiöser Toleranz, teils aus familären Gründen – so wollte etwa Raimund-Roger von Foix seine katharische Ehefrau nicht verbrennen –, teils weil die Kreuzzügler eher durch Beutegier als durch Frömmigkeit auffielen, aber wohl auch, weil in dieser Region, die die Troubadour-Kultur hervorgebracht hat, die Dinge etwas lockerer gesehen wurden. Der militärischen Niederlage folgte daher eine Art Guerillakrieg. Die Kirche, die die Ketzerverfolgung zuvor nur sporadisch betrieben hatte, gründete nun die Inquisitionsbehörde, die systematisch allen religiösen Abweichlern nachspürte. Der ungewohnte und verhasste Überwachungsstaat stieß auf Widerstand, es kam zu Aufständen, wohlhabende Katharer bezahlten Auftragskiller, um Inquisitoren ermorden zu lassen. Doch auch politisch musste die Kirche reagieren, sie förderte die Bettelorden als loyale Armutsbewegung. Es folgten weitere 300 Jahre der ideologischen Alleinherrschaft des Katholizismus.

Was wäre geschehen, wenn die Katharer die Kreuzzügler hätten zurückschlagen können? Die reizvollste Möglichkeit wäre sicherlich die Verbreitung größerer Gedankenfreiheit durch die Akzeptanz zweier Religionen. Die katholische Kirche, im Frühmittelalter einziger Träger der Bildung, war in eben jener Zeit, da das Bürgertum intellektuelle Interessen zu entwickeln begann, zum Hindernis für den geistigen Fortschritt geworden. Aufklärung schon im 13. oder 14. Jahrhundert, begleitet von fröhlich-lasziven Gesängen der Troubadours – wäre der Fortschritt viel früher gekommen, wenn Peter II. von Aragonien im Jahr 1213 bei Touret nicht, wie die Überlieferung berichtet, statt die Überlegenheit seiner Armee auszunutzen, den ritterlichen Zweikampf gesucht hätte, der für ihn tödlich endete?
Kontrafaktische Geschichtsscheibung ist eine höchst spekulative Angelegenheit, eben darin liegt ihr besonderer Reiz. Die materiellen Bedingungen sind die Grundlage der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Ketzer- und Armutsbewegungen hätten daher den Feudalismus nicht durch eine Änderung der hegemonialen Ideologie überwinden können. Sie gelten als Vorläufer des Sozialismus, nicht gänzlich zu Unrecht, denn unter vorkapitalistischen Bedingungen konnte die Bekämpfung der Ungleichheit nur in der gerechten Verwaltung des Mangels bestehen, so dass die Ideologie der Askese, so bedenklich sie aus heutiger Sicht erscheinen mag, naheliegend war.
Zwangsläufig aber entfernen sich Ideologie und Wirklichkeit voneinander, wie es bei den Katharern bereits in der strikten Trennung zwischen perfecti und credentes erkennbar war. Nach der Etablierung der Bewegung hätte wahrscheinlich ein ähnlicher Prozess stattgefunden wie bei der Romanisierung des Christentums: eine pragmatische Versöhnung mit den weltlichen Verhältnissen, in der die katharische Kirche Garant und Regulativ der herrschenden Ordnung geworden wäre. Ketzer sind meist nicht sehr tolerant, die Katharer hätten wohl auch eine Inquisitionsbehörde gegründet, wenn sie mit katholischen Dissidenten oder Abweichlern ihrer Bewegung konfrontiert gewesen wären.
Aber auch die Gründung eines monoreligiösen Reiches mit einem primus perfectus als geistlichem Oberhaupt hätte interessante Entwicklungen herbeiführen können. Katharien, das Land der Reinen: Katalonien mit Südfrankreich und Norditalien, die Finanz- und Seemacht italienischer Städte, ergänzt um andere Handelsstädte wie Barcelona, mit einem fruchtbaren agrarischen Hinterland vereint – einmal geschaffen, hätte ein solches Reich sich verteidigen können. In einem solchen Katharien wären die Schauplätze des Unabhängigkeitskampfes wie Gósol wohl Wallfahrtsorte geworden, während in der Zinsnahme unbeschränkte Handelsherren für wirtschaftliche Dynamik gesorgt hätten.
Ein Seefahrer wie der Genuese Kolumbus hätte dann für ein dynamischeres Reich eine »neue Welt« zur Plünderung erschlossen. Das Gold hätte nicht den Umweg über das in Dogmatismus und Standesdünkel versunkene Spanien nehmen müssen, um viel später in England Kapital für die Industrialisierung zu werden – eine florierende Textilproduktion gab es in Italien bereits. Wir könnten also längst die kapitalistische Epoche hinter uns gebracht haben und im Sozialismus leben, wenn Peter II. von Aragonien …

Aber diese und viele andere Gelegenheiten hat die Menschheit nun einmal verpasst. Die kontrafaktische Geschichtsschreibung kann nur dabei helfen, Vergangenheit und Gegenwart besser zu verstehen, indem sie etwa den mythologischen Charakter nationalistischer Identitätspolitik verdeutlicht. Als Aufgabe der Gegenwart sollte die Überwindung der Nationalstaaten begriffen werden, nicht deren weitere Aufteilung. In dieser Hinsicht kann man vom Mittelalter, einer Epoche des Universalismus, lernen. Damals kannten die meisten Menschen, dürftig ernährte Analphabeten, die kaum darauf hoffen konnten, ein Alter von über 50 Jahren zu erreichen, die Welt nur bis zum nächsten Marktflecken, doch fühlten sie sich geistig mit allen anderen Menschen verbunden. Heutzutage ist es umgekehrt. Wir können Menschen auf der anderen Seite des Planeten in Echtzeit beobachten und beschimpfen, doch der Trend geht zum Rückzug auf den Marktflecken.
Insofern haben wir, wenn man ritterlich genug ist, jede Epoche an ihren Möglichkeiten zu messen, wenig Anlass, auf das Mittelalter herabzublicken. Es ist selbstgewählte Bildungsferne, die drei Jahrhunderte nach dem verspäteten Beginn der Aufklärung die Menschen dazu bewegt, kleingeistige nationale Verteilungskämfe zu führen, statt die Möglichkeiten unserer Zeit für einen emanzipatorischen Universalismus zu nutzen. Gerade in Katalonien, das es vor 80 Jahren fast zur sozialen Revolution gebracht hätte, sollte man sich höhere Ziele als eine Staatsgründung setzen.