Der spanische Regisseur Agustí Villaronga

Wenn man lange genug in den Abgrund starrt

Der spanische Regisseur Agustí Villaronga ist in Deutschland bislang unbekannt. Dabei haben seine Filme international für Aufsehen gesorgt.

Ich glaube, Grausamkeit muss manchmal gezeigt werden, damit man versteht, was mit den Leuten passiert, die Zeuge davon werden. Aber dahinter steht keine bestimmte Ästhetik der Gewalt«, hat der 1953 auf Mallorca geborene Regisseur Agustí Villaronga vor einigen Jahren in einem Interview gesagt. Doch genau eine solche Ästhetisierung von Gewalt ist es, die dem seit seiner Jugend in Barcelona lebenden Regisseur immer wieder vorgeworfen wurde.
Schon sein erster Auftritt auf der internationalen Bühne begann mit einem Skandal: Sein Spielfilmdebüt »Im Glaskäfig« rief bei der Premiere auf der Berlinale 1986 so viel Empörung und Widerspruch hervor wie kein anderer Film. »Ich war im Foyer eines Kinos, in dem der Film lief, und gab gerade ein Interview, als ich plötzlich hörte, wie im Saal geschrien und protestiert wurde. Die Türen des Kinosaals öffneten sich und heraus kam ein junger Mann, völlig außer sich. Er baute sich vor mir auf und verpasste mir einen Schlag«, erinnerte sich Villaronga anlässlich der DVD-Veröffentlichung von »Im Glaskäfig« an die erste Aufführung seines Debütfilms. Der Film erzählt die Geschichte des ehemaligen deutschen KZ-Arztes Klaus, der im spanischen Exil von seiner Vergangenheit eingeholt wird. Im Konzentrationslager hatte er medizinische Experimente an kleinen Jungen durchgeführt und dabei seine sadistischen homosexuellen Neigungen entdeckt und ausgelebt. Nachdem er in Spanien wieder einen Jungen gefoltert und ermordet hat, begeht er einen Selbstmordversuch und stürzt sich von einem Hausdach. Er überlebt zwar den Sturz, ist jedoch fortan vom Hals abwärts gelähmt und wird nur von einer eisernen Lunge am Leben gehalten, deren regelmäßige Geräusche dem Film seinen bedrohlichen Sound geben. Im titelgebenden Glaskäfig gefangen, wird Klaus von seiner Frau und seiner Tochter gepflegt, bis Jahre später der mysteriöse Angelo auftaucht und sich als Krankenpfleger bewirbt. Angelo stellt sich als ein überlebendes Opfer von Klaus heraus, der den nun wehrlos an die Maschine gefesselten Mann zwingt, seine Vergangenheit noch einmal zu durchleben. Der durch das Erlebte psychisch beschädigte Angelo übernimmt mehr und mehr von Klaus’ Persönlichkeit und beginnt, ebenfalls Jungen zu foltern und zu ermorden, minutiös dem Vorbild aus Klaus’ KZ-Tagebuch nachempfunden. Schließlich nimmt er vollständig die Identität seines ehemaligen Folterers an und wird fortan von Klaus’ Tochter im Glaskäfig gepflegt. Neben der ästhetisierten Darstellung der Folterszenen lag der Skandal vor allem in der Ambivalenz der Charaktere: Das Opfer Angelo wird mehr und mehr zum Täter, verleibt sich Klaus’ Identität ein, während dieser an die lebenserhaltende Maschine gefesselt ist, so wie auch die Zuschauer den Bildern ausgeliefert sind.
»Im Glaskäfig« ist bereits geprägt von einer Ästhetik, die auch die weiteren Filme Villarongas bestimmt. Der studierte Kunsthistoriker konzentriert sich in seiner Bildgestaltung auf Spiele aus Licht und Schatten, auf fahle Farben, kunstvoll inszenierte Bilder, die mit dem oft brutalen Inhalt kontrastieren. Geschlossene Räume, fast schon klaustrophobische Settings sind die Orte, an denen seine Protagonisten mit der Brutalität einer durch Krieg und Faschismus zerstörten Gesellschaft konfrontiert werden. Es sind in sich geschlossene Welten, Dörfer, Krankenhäuser, Innenräume ohne sichtbares Außen, die von eigenen Regeln bestimmt sind.
Auch die Motive in Villarongas Filmen verweisen immer wieder aufeinander: Es geht um das Verhältnis zwischen Gewalt und Sexualität, um Homosexualität, die anders als bei seinem Kollegen und Landsmann Pedro Almodovar jedoch nicht lustvoll dargestellt, sondern oftmals gekoppelt ist an ihre gewaltvolle Unterdrückung oder Verleugnung. Auch zeigt Villaronga in seinen Filmen den Verlust von poli­tischen Idealen angesichts gesellschaftlicher Realitäten, er inszeniert Opfer und deren Leiden, zeigt die Abgründe hinter dörflichen oder familiären Strukturen. Die verletzten Psychen der Protagonisten, in den meisten Fällen Männer, werden ausgebreitet und führen oftmals in die Vergangenheit zurück, in Kindheiten, die niemals unbeschwert waren, sondern geprägt von der Bedrohung durch die brutale Welt der Erwachsenen.
»Die Kindheit ist für mich eine mythische Zeit in unserem Leben. Etwas aus dieser Zeit löst sich nie auf, bleibt unterschwellig immer vorhanden, auch wenn wir erwachsen sind«, hat Villaronga in einem Interview gesagt. In seinen drei wichtigsten Werken »Im Glaskäfig«, »Das Meer« (2000) und »Pa Negre«, dem spanischen Beitrag zur Oscarverleihung für den besten ausländischen Film von 2011, kommen bereits in den ersten Filmminuten auf brutale Weise Kinder zu Tode. Alle drei Filme sind bestimmt von der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts: Während sich in »Im Glaskäfig« die Gewalt der Gegenwart vor dem Hintergrund des deutschen Nationalsozialismus Bahn bricht, sind »Das Meer« und »Pa Negre« eng mit den Ereignissen des Spanischen Bürgerkriegs verwoben. In dem auf Mallorca angesiedelten Film »Das Meer« wird das Kind Pau nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs Zeuge, wie sein Vater als Angehöriger der Volksfront von Faschisten hingerichtet wird. Er lauert daraufhin mit seinen beiden Freunden Manuel und Ramallo dem Sohn des Täters auf, bringt ihn brutal um und begeht danach Selbstmord. Zehn Jahre später treffen zufällig Manuel und Ramallo in einem Sanatorium für junge Tuberkulosekranke wieder aufeinander. Beide leiden an der vor der Entdeckung von Penicilin fast immer tödlich verlaufenden Krankheit, mehr noch aber leiden sie an einer Gesellschaft, die ihnen ein freies Leben verweigert, und an der Erinnerung an die vom Tod geprägte Vergangenheit. Auch in »Das Meer« spielt unterdrücktes homosexuelles Begehren, das sich schließlich in Gewalt entlädt, eine zentrale Rolle, gekoppelt an eine Auseinandersetzung mit dem in Spanien so präsenten Katholizismus, in seiner Ausprägung als religiöser Wahn. Der Film zeigt eine durch den Spanischen Bürgerkrieg und dessen Folgen aus den Fugen geratene Welt, in der Moral keine Bedeutung mehr hat. Dieses Thema durchzieht auch Villarongas bis dato erfolgreichsten Film »Pa Negre«, der zahlreiche Filmpreise gewonnen hat. Darin wird wieder ein Spanien kurz nach dem Ende des Bürgerkriegs heraufbeschworen, in dem ein Vogelhändler und sein Sohn ermordet werden. Der elfjährige Protagonist Andreu findet die Leichen der beiden, und sein Vater Farriol, ein ehemaliger Angehöriger der Volksfront, wird, auch aus politischen Motiven, des Mordes verdächtigt. Farriol beschließt, nach Frankreich zu fliehen, während Andreu zu Verwandten aufs Land geschickt wird. Im Laufe des Films stellen sich für Andreu alle Gewissheiten auf den Kopf, das Vertrauen in seine Eltern wird erschüttert und er muss feststellen, dass der Bürgerkrieg, dessen Verlierer seine Eltern waren, auch deren einstige Ideale zerstört hat. Aus dem Opfer Farriol wird ein Täter, aus der liebenden Mutter eine Fremde, und am Ende des Films ist Andreu alleine, auf sich gestellt in einer feindlichen Umwelt, hinter deren Fassaden Abgründe lauern – Abgründe wie jener, in den zu Beginn des Films der Vogelhändler und sein Sohn gestoßen werden.
Nachdem sich Agustí Villaronga in seinen bisherigen Filmen vor allem als Analytiker der europäischen Geschichte gezeigt und ihr brutales Nachwirken in der Gegenwart herausgearbeitet hat, wendet er sich mit seinem jüngsten Film »El rey de La Habana« einem anderen Kontinent zu. Vor dem Hintergrund der Rezession der neunziger Jahre und der folgenden Armut nach dem Zusammenbruch des Ostblocks begleitet er in dem Film den jungen Protagonisten Reinaldo, der aus einem Erziehungsheim flieht und versucht, auf den Straßen von Havanna zu überleben. Im alltäglichen Kampf um Essen findet er sein kleines Glück mit Magda, während das Land immer weiter in Armut und Chaos versinkt. Aber auch dieses Glück ist nicht von Dauer.
Während Villaronga in Spanien mittlerweile Anerkennung als Regisseur gefunden hat, ist er in Deutschland noch weitestgehend unbekannt. Einzig »Das Meer« und »Im Glaskäfig« sind auf DVD erhältlich, und noch nicht einmal der erfolgreiche »Pa Negre« hat einen deutschen Kinoverleih gefunden. Ähnlich wird es vermutlich auch »El rey de La Habana« ergehen, und so bleibt es hierzulande weiterhin fast unmöglich, einen der interessantesten und radikalsten Regisseure Spaniens kennenzulernen, der sich der Analyse der traumatischen Wunden Europas angenommen hat.