Reformen und I-Voting in Bulgarien

Demokratie auf Knopfdruck?

Am kommenden Sonntag wird in Bulgarien in einer Volksabstimmung über die Einführung von Online-Wahlen entschieden. Damit verbunden ist die trügerische Hoffnung auf Reform und Modernisierung der Demokratie.

Parallel zu den Kommunalwahlen findet am kommenden Sonntag, den 25. Oktober, in Bulgarien ein Referendum über die Frage statt, ob Wahlen und Abstimmungen zukünftig auch über das Internet ermöglicht werden sollen (Online-Wahl oder »I-Voting«). Das Referendum geht auf eine Initiative des Staatspräsidenten Rossen Plewneliew zurück.
Seit Jahren befindet sich die bulgarische Demokratie in einer tiefen Krise. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung über wachsende Armut, Perspektivlosigkeit, mangelnde Korruptionsbekämpfung und vor allem die engen Verbindungen der politischen Führung mit der wirtschaftlichen Oligarchie ist hoch. Sie entlud sich 2013 und 2014 in mehreren, zum Teil monatelang andauernden Protesten (Jungle World 29/2013), die zweimal Regierungen zum Rücktritt zwangen und Neuwahlen erforderlich machten. Gleichwohl ist die politische Führung die alte geblieben. Nur ihre Zersplitterung hat zugenommen: Mittlerweile gibt es acht Fraktionen im Parlament, die nicht weniger als 37 verschiedene Parteien vertreten.

Nur eine kleine Minderheit der Bürgerinnen und Bürger ist daher mit dem Zustand der Demokratie zufrieden. Schon der Ablauf der Wahlen funktioniert nur mangelhaft. Regelmäßig kommt es zu organisatorischen Problemen und illegaler Beeinflussung, insbesondere durch den Kauf von Stimmen, die Nötigung von Wählerinnen und Wählern in Abhängigkeitsverhältnissen und »Wahltourismus«, die mehrfache Stimmabgabe an verschiedenen Orten. Diese Formen der Wahlfälschung werden weder wirksam bekämpft noch im Falle der Aufdeckung effektiv strafrechtlich verfolgt.
Schon länger gibt es daher eine Debatte über institutionelle Reformen. Mit Staatspräsident Plewneliew fand diese Debatte rasch einen starken Fürsprecher. Bereits im Januar 2014 schlug er dem Parlament drei zentrale Änderungen des Wahlrechts zur Unterbreitung in einer Volksabstimmung vor: ein Mehrheitswahlrecht für die Bestimmung eines Teils der Abgeordneten, eine Wahlpflicht und die Online-Wahl. Damit sollten der Einfluss der Bürger auf das Parlament gestärkt, Wahlfälschung zurückgedrängt und die Beteiligung der zahlreichen im Ausland lebenden Landsleute am politischen Prozess erhöht werden.
Dieser Vorschlag, den eine Initiative von etwa 570 000 Bürgerinnen und Bürgern unterstützte, wurde jedoch zunächst von der damals regierenden Mitte-links-Koalition blockiert. Nach den vorgezogenen Neuwahlen vom Herbst 2014 und der Etablierung einer Mitte-rechts-Regierung unter Ministerpräsident Bojko Borissow erneuerte Plewneliew seinen Vorschlag. Borissow, der wie Plewneliew der liberal-konservativen Partei GERB angehört, war bereits von 2009 bis 2013 Regierungschef, bis er wegen der ersten Welle von Sozialprotesten zurücktrat.
Auch diesmal jedoch wehrte sich das Parlament erfolgreich zumindest gegen einen Teil der Referendumsinitiative. Ende Juli dieses Jahres wies es die ersten beiden Abstimmungsfragen in einer kontroversen Entscheidung zurück. Lediglich die Einführung des I-Votings erhielt die notwendige Stimmenmehrheit. Der Vorschlag, die Bürgerinnen und Bürger auch über Mehrheitswahlrecht und Wahlpflicht entscheiden zu lassen, scheiterte nicht nur am Widerstand der Opposition, sondern auch an der Uneinigkeit innerhalb der Regierungskoalition, die kein ernsthaftes Interesse an demokratischen Reformen zeigt.

Die Chancen für eine Annahme des Vorschlags zur Einführung des I-Votings in der nun anberaumten Volksabstimmung stehen jedoch gut. Einer repräsentativen Meinungsumfrage von Anfang Oktober zufolge befürwortet eine klare Dreiviertelmehrheit die Online-Wahl. Zudem erscheint es realistisch, dass das laut Gesetz notwendige Beteiligungsquorum in Höhe der vorigen Parlamentswahlen (48,7 Prozent) erreicht wird, da das Referendum gemeinsam mit den Kommunalwahlen stattfindet. Damit wäre ein Beschluss bindend und müsste von Parlament und Regierung umgesetzt werden. Bulgarien wäre dann nach Estland und der Schweiz das dritte Land der Welt, das das I-Voting für nationale Wahlen und Abstimmungen einführt.
Doch welche Hoffnungen werden damit verbunden und wie berechtigt sind sie? Zentrales Ziel ist eine stärkere Einbindung der bulgarischen Diaspora in den politischen Prozess des Landes. Mehr als zwei Millionen Bulgarinnen und Bulgaren leben derzeit im Ausland – bei etwa 7,2 Millionen Einwohnern im Inland demnach mehr als ein Fünftel aller Bürgerinnen und Bürger. Im Ausland nahmen bisher aber nie mehr als zehn Prozent der Wahlberechtigten in den Botschaften und Konsulaten an Wahlen teil. Durch das I-Voting könnte die Beteiligung spürbar erhöht werden.
Gleichwohl wären hiermit drei grundlegende Probleme verbunden, die in Bulgariens Öffentlichkeit bisher jedoch nur am Rande thematisiert wurden. Erstens untergräbt die Online-Wahl den Wahlrechtsgrundsatz der Geheimhaltung. Dieser ist in Bulgarien (wie etwa auch in Deutschland) nicht nur ein individuelles Recht, sondern eine Rechtspflicht. Das heißt, das Stimmverhalten darf im Wahllokal nicht offenbart werden, um die Freiheit der Wahl wirksam zu schützen. Beim I-Voting ist dies jedoch nicht kontrollierbar. Stimmenkauf und Wählernötigung wären noch ein­facher als heute. Bereits 2011 hat das Verfassungsgericht in Sofia deshalb ein erstes Pilotprojekt zur Online-Wahl verboten.
Zweitens ist es bisher technisch nicht gelungen, Online-Wahlen manipulationssicher durchzuführen. Selbst das bereits seit 2005 genutzte und stetig weiterentwickelte estnische System weist nach wie vor Sicherheitsmängel auf. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass nun ein Land das I-Voting einführen will, das als Heimat vieler Computerviren gilt und eine der größten Hackerszenen der Welt aufweist. Zudem läuft in Bulgarien ja nicht einmal die Organisation der herkömmlichen Wahlen rund – wie sollen dann erst die für den Laien technisch kaum durchschau­baren Online-Wahlen das notwendige Vertrauen erzeugen?

Drittens lässt sich in Frage stellen, ob dauerhaft im Ausland lebende Bürgerinnen und Bürger ein begründetes Interesse an der Mitbestimmung der Politik ihres Herkunftslandes haben. Angesichts der großen Anzahl von Wahlberechtigten im Ausland könnte deren effektive Einbindung in den nationalen Wahlprozess daher neue Legitimitätsprobleme schaffen. Würden die in Bulga­rien lebenden Landsleute überhaupt akzeptieren, wenn diejenigen, die beispielsweise von sozialpolitischen Maßnahmen nicht betroffen sind, deren Zielrichtung maßgeblich mitbestimmen?
Daher ist mehr als fraglich, ob von der Online-Wahl tatsächlich ein positiver Impuls für die Demokratie in Bulgarien ausgehen würde. Unabhängig davon würden bis zur praktischen Umsetzung eines eventuellen positiven Referendumsbeschlusses mindestens drei bis fünf Jahre ver­gehen, da die entsprechende digitale Infrastruktur nicht schneller aufgebaut werden könnte.
Außerdem ist es keineswegs sicher, ob sich die politische Führung überhaupt an einen Volksentscheid halten würde, auch wenn er rechtsverbindlich ist. Am Ende wären dann wohl wieder die Bürgerinnen und Bürger gefragt, das Parlament durch Protest zur Respektierung ihres Willens zu zwingen.