Die türkische Regierung duldet jihadistische Gruppen – wusste sie von den Attentätern von Ankara?

Die 360-Grad-Wanderung

Die Ermittlungsergebnisse zum Anschlag in Ankara werfen die Frage auf, was die türkische Regierung vor dem Attentat gewusst haben kann.

Das Attentat in Ankara ist der bislang schlimmste Bombenanschlag in der Geschichte der Türkei. Über 100 Opfer und zirka 500 Verletzte sind die schreckliche Bilanz. Zwei Bomben detonierten am Vormittag des 10. Oktober in einem Zeitabstand von drei Sekunden. Vor dem Hauptbahnhof in Ankara hatten sich die Teilnehmer der geplanten Demonstration für den Frieden versammelt. Aus allen Teilen des Landes waren Menschen angereist, um gegen die Gewalteskalation in den Kurdengebieten zu protestieren. Es sollte die größte Solidaritätsdemonstration dieser Art in der Hauptstadt werden; man wollte vor allem zeigen, dass eine breite Öffentlichkeit sich für Freiheit und Frieden einsetzt. Ein Video zeigt fröhliche junge Leute, die sich an den Händen halten und tanzen, als die erste Bombe explodiert und eine gewaltige Druckwelle die Menschen nach vorne taumeln lässt. Die türkische Regierung äußerte Entsetzen und ließ sich den ganzen Tag lang aus dem Ausland kondolieren. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu bekräftigten, dass sie dem Terror den Krieg erklärt hätten. Ein ungeschickte Rhetorik, mit der sich die beiden Politiker zugleich selbst demaskieren: Sie befinden sich auf dem Kriegspfad, ihre Gegner sind die Kurden, die Opposition, die freien Medien, Europa und der Westen.
Das Propagandablatt der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die Tageszeitung Yeni Akit, behauptet, ausländische Mächte hätten das größte Interesse daran, die Türkei zu destabilisieren. Noch am 15. Oktober, als sich bereits andeutete, dass die Selbstmordattentäter aus einem radikalislamistischen Umfeld stammen, suggerierte die Hauptschlagzeile auf dem Titelblatt, die PKK habe von dem Anschlag gewusst und hätte die Kundgebung absagen können. Es stellt sich allerdings die Frage, warum der türkische Geheimdienst und damit die Regierung angeblich nichts von dem Anschlag wussten. Der konservative Kolumnist Cengiz Çandar, vormals ein Fürsprecher der Kurdenpolitik der türkischen Regierung, stellt auf der englischsprachigen Website al-Monitor resigniert fest, dass der Kurdenhass der Regierung stärker sei als ihr Wille, den »Islamischen Staat« (IS) zu bekämpfen. Davutoğlu sei zu einer tragischen Figur geworden, die sklavisch den Weisungen ihres »Bosses Erdoğan« folge und sich lächerlich mache. Vier Tage nach dem Anschlag hatte der Regierungschef bereits auf einer Pressekonferenz den IS und die PKK für den Anschlag verantwortlich gemacht, Anstifter sei der Assad-Clan in Syrien, der die Freie Syrische Armee schwächen wolle ­– eine absurde These, doch Davutoğlu legte noch nach. Der Islam der Türken unterscheide sich von dem des IS »nicht um 180 Grad, sondern um 360 Grad«. Was wohl als Distanzierung gemeint war, besagte versehentlich das Gegenteil..

Als der erste Selbstmordattentäter von den Sicherheitskräften als Yunus Emre Alagöz identifiziert wurde, stellte sich heraus, dass es sich um den älteren Bruder des Attentäters Abdurrahman Alagöz handelt, der am 20. Juli im südostanatolischen Suruç nahe der syrischen Grenze 34 prokurdische Aktivisten mit in den Tod riss, die im syrischen Kobanê Aufbauhilfe leisten wollten. Alagöz gehört zum Umfeld einer von dem türkischen Journalisten İdris Emen bereits Ende September 2013 identifizierten Jihadistengruppe im südostanatolischen Adıyaman. Emen veröffentlichte eine Serie unter dem Titel »Adıyaman, die Route nach Syrien« in der türkischen Tageszeitung Radikal, in der er nachweist, dass Adıyaman ein Rekrutierungsgebiet des IS ist und die Gruppierung mit dem Namen »Die Weber« immer wieder Jihadisten nach Syrien schickt. Radikal verbreitete kurz nach Davutoğlus Behauptung, der zweite Attentäter stamme aus PKK-Kreisen, die Nachricht, bei dem zweiten Selbstmordattentäter handele es sich um Ömer Deniz Dündar, einen IS-Jihadisten, der genau wie Alagöz auf einer Liste mit 21 potentiellen Selbstmordattentäter stehe, die dem türkischen Geheimdienst vorliege. Ahmet Davutoğlu erklärte, das sei zwar richtig, die Sicherheitskräfte hätten jedoch keine Handhabe gegen potentielle Täter. In den sozialen Medien entlud sich ein Shitstorm gegen die türkische Regierung. Angesichts der Tatsache, dass in der Türkei regelmäßig Oppositionelle und Journalisten festgenommen werden, die lediglich ihr Demonstrationsrecht ausüben oder über den Kurdenkonflikt berichten, sorgte diese Aussage für großen Unmut. Die Regierung verbot umgehend, über den Stand der laufenden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zu berichten.
Die Indizien sprechen dafür, dass die türkische Regierung bereits vor dem geplanten Anschlag eine Reihe brisanter Erkenntnisse besaß. Im besten Fall wurde ein Eingreifen verschlafen, schlimmstenfalls geschah der Anschlag mit Billigung der politischen Führung, um vor den Wahlen die prokurdische Opposition zu schwächen. Fehim Taştekin, ein Kolumnist der Zeitung Radikal, fragte unlängst auf der Online-Plattform al-Monitor: »Streut die türkische Regierung falsche Informationen über die Bombenanschläge auf die Friedensdemonstration in Ankara?« Er vermutet, dass die Öffentlichkeit bewusst falsch oder bruchstückhaft informiert werde. Der »Islamische Staat« und die PKK würden als die großen Unbekannten inszeniert. Dabei seien die Jiha­disten aus Adıyaman alte Bekannte und stünden wie keine andere Gruppe für die traurige Wahrheit, dass die türkischen Sicherheitskräfte islamistische Terrorzellen gewähren lassen. Die Angehörigen der Gruppe von zehn Jihadisten, die momentan verdächtigt werden, an dem Anschlag von Ankara beteiligt gewesen zu sein, stehen wegen Verbindungen zu al-Qaida zwar vor Gericht, doch keiner der Männer kam bisher in Untersuchungshaft. Internationale Menschenrechtsorganisationen, die EU und die UN kritisieren vorschnelle Verhaftungen und die oft jahrelange Untersuchungshaft in der Türkei. Davon betroffen sind prokurdische und linke Oppositionelle, Mitglieder der Fethullah-Gülen-Bewegung und der Kemalisten. Jihadisten genießen in der Türkei dagegen eine bevorzugte Behandlung. »Die Weber« aus Adıyaman sind eine bekannte Gruppe; die Sicherheitskräfte wehrten sich bislang aber dagegen, gegen sie vorzugehen.
Die Eltern des mutmaßlichen Attentäters Ömer Deniz Dündar gaben bereits am 9. September 2013 eine Vermisstenanzeige auf. Die Tochter Fatma Dündar machte die Behörden darauf aufmerksam, dass ihre Brüder Ömer Deniz und Mehmet Gazi Dündar sich dem IS angeschlossen hätten. Sie besuchten beide das Kaffehaus, in dem die in die Anschläge von Suruç und Ankara verwickelten Alagöz-Brüder in Adıyaman verkehrten. Offenbar handelt es sich um einen Treffpunkt der »Weber«-Gruppe. Der Vater Mehmet Dündar berichtete gegenüber Radikal, dass er seit zwei Jahren versuche, seine Söhne nach Hause zu holen. Er reiste nach Aleppo und fand seine Kinder dort mit anderen jungen Männern aus den Kurdengebieten der Türkei in einem Ausbildungslager. Mitnehmen durfte er sie nicht, er erfuhr nur, dass sie für den »heiligen Krieg« ausgebildet würden. Als die Söhne schließlich im Oktober 2014 nach Adıyaman zurückkehrten, brachten sie ihre jungen Ehefrauen mit. Der Vater zeigte daraufhin seine Söhne bei der Polizei als Jihadisten an. Er wollte verhindern, dass sie sich an militanten Aktionen beteiligen. Sie wurden bei der Polizei vernommen und wieder laufengelassen. Acht Monate später verschwanden beide mit ihren Frauen und Kindern nach Syrien; seitdem hat die Familie keine Nachricht von ihnen. Beide Männer und ihre Ehefrauen stehen auf der Behördenliste potentieller Attentäter. Wie konnten sie aus Syrien unbemerkt bis nach Ankara reisen?

Polizeiakten zeigen, dass um die 100 Familien in gleicher Weise nach ihren Kindern suchten wie die Dündars und Anzeige erstattet haben. Die Anzeigen richteten sich gegen die Führer der »Weber«-Gruppe in Adıyaman. Aus den Telefonaufzeichnungen geht hervor, dass die verdächtigen Personen auch in Syrien hätten abgehört werden können. Die türkischen Ermittler dementierten am 10. Oktober jedoch, dass es sich bei dem zweiten Selbstmordattentäter um Ömer Deniz Dündar handle. Bei den DNA-Proben sei ein Fehler unterlaufen. Der zweite Attentäter sei Ausländer. Doch selbst wenn das stimmen sollte, über Yunus Emre Alagöz, den ersten Selbstmordattentäter, besteht eine Verbindung nach Adıyaman zur »Weber«-Gruppe, die den Sicherheitsbehörden hinlänglich bekannt ist. Es ist schwer nachvollziehbar, dass ihnen die Planung eines solchen Anschlages entgangen sein soll.

In den Kurdengebieten kämpfen jihadistische Gruppen bereits seit den Neunzigern gegen die PKK und ihre Anhänger. Damals wurden sie von der kemalistischen Militärführung als Gegenkraft instrumentalisiert und schließlich wieder zerschlagen, als sie zu stark geworden waren. Die sogenannte Hizbollah in der Türkei war damals bereits für ihre Brutalität berüchtigt. Nach der Erschießung des Führers Hüseyin Velioğlu am 17. Januar 2000 in Istanbul fiel den Sicherheitsbehörden das Archiv der Hizbollah in die Hände; Tausende Militante wanderten ins Gefängnis. Mittlerweile sind fast alle wieder auf freiem Fuß. Die Hizbollah hat seit 2013 eine eigene Partei namens Hüda Par. Der Kampf gegen die Kurden wird auf unterschiedlichen Ebenen geführt. Ein Teil der jungen Anhänger schließt sich radikalen jihadistischen Gruppen in Syrien an, sie stehen auch für Attentate in der Türkei bereit. AKP-nahe Jugendorganisationen wie die »Osmanische Heimstatt« bilden von der Polizei geduldete Schlägertrupps, die auf Kundgebungen Demonstranten verprügeln und Eskalationen provozieren wollen.
Die PKK hat kurz vor den Anschlägen erneut einen Waffenstillstand ausgerufen, der bis zu den Wahlen andauern soll. Die türkische Luftwaffe bombardiert jedoch nach wie vor die Lager der PKK, nicht die des IS. In Provinzen wie Cizre wurden Zivilisten auf der Straße von Ordnungskräften und deren Sympathisanten erschossen. Es handelt sich um gezielte Menschenrechtsverletzungen und eine Sabotage des Friedensprozesses. Der Erfolg der prokurdischen HDP bei den Parlamentswahlen im Juni dieses Jahres hat die AKP viele Stimmen gekostet; Erdoğans Plan, ein Präsidialsystem zu installieren, ist gefährdet. Bisher hat die AKP mit ihrer Politik der Eskalation bei den Wählern nicht dazugewonnen. Es bleibt abzuwarten, ob in der Türkei am 2. November tatsächlich gewählt werden kann.