Niemand hat die Absicht, eine Atombombe zu bauen – davon will der Iran die Internationale Atomenergieagentur überzeugen

Die Delphinstimme

Die Internationale Atomenergie-Organisation hat im bei Teheran gelegenen Rüstungszentrum Parchin im Sand gebuddelt. Der alte Verdacht, dort könnte an einer Nuklearwaffe gearbeitet worden sein, lässt sich so nicht entkräften.

Als »Past and Present Issues of Concern«, Gründe zur Besorgnis, bezeichnet das Wiener Abkommen vom 14. Juli die offenen Fragen über die militärischen Aspekte des iranischen Atomprogramms. Die neutrale Formulierung ersetzt den deutlicheren Begriff, den die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) hierfür benutzt, »pos­sible military dimensions«, aber so viel sprachliche Eindeutigkeit war den iranischen Diplomaten nicht zuzumuten. Nach ihrer Lesart sind die frag­lichen Vorkommnisse erstens olle Kamellen und haben zweitens gar nicht stattgefunden.
Seit Jahren entzündet sich der Streit vor allem an dem unweit von Teheran gelegenen Rüstungszentrum Parchin. Im November 2011 teilte die IAEA mit, ihr lägen glaubwürdige Informationen aus unterschiedlichen Quellen vor, wonach der Iran in jener Anlage an der Entwicklung einer Nuklearwaffe einschließlich ihrer Verwendung als Raketensprengkopf gearbeitet habe. Der detaillierte Bericht enthält zwölf Abschnitte, deren Überschriften wie folgt lauten: Managementstruktur des Programms, Beschaffungswesen, Akquisition von Nuklearmaterial, nukleare Komponenten eines Explosionskörpers, Entwicklung einer Sprengkapsel, Zündung von Hochexplosivstoffen und damit verbundene Experimente, hydrodynamische Experimente, Modellierungen und Berechnungen, Neutronengenerator, Vorbereitung eines Atomwaffentests, Integration in eine Trägerrakete, Zündungs- und Entsicherungsmechanismen. Diese Aktivitäten hätten bis Ende 2003 im Rahmen eines strukturierten Programms stattgefunden, einige davon seien möglicherweise danach noch fortgesetzt worden.
Die Informationen, die Generaldirektor Yukiya Amano in jenem Bericht veröffentlichte, hatten bereits seinen Vorgänger im Amt, Mohammed el-Baradei, beschäftigt. Bereits 2004 wurde die Atombehörde von einem Mitglied des sogenannten Khan-Netzwerks darüber informiert, dass der Iran Unterlagen über ein Atomwaffendesign des pakistanischen Nuklearwissenschaftlers Abdul Qadeer Khan erhalten hat, die gleichen Dokumente, die im Oktober 2003 an den damaligen libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi gehen sollten (wobei das Netzwerk aufflog). El-Baradei konfrontierte den Iran mit diesen Vorwürfen und erhielt darauf teils unkonkrete, teils ausweichende, unverschämte oder gar keine Antworten. Im Jahr 2005 erlaubte der Iran IAEA-Inspektoren zwei Besuche in Parchin, nicht jedoch auf jenem Teil des Geländes, auf den sich der Verdacht konkret bezog. Die iranische Regierung behauptete, die der IAEA vorliegenden Dokumente seien Fälschungen westlicher Geheimdienste. Getreu seiner Devise, den empfindlichen iranischen Politikern nicht zu nahe zu treten und alles zu vermeiden, was von ihnen als Kränkung aufgefasst werden könnte, zog el-Baradei es vor, die Angelegenheit mehr oder weniger vertraulich zu behandeln. Nach außen wurde er nicht müde, vor Falschinformationen zu warnen, wie sie zur Begründung des Irak-Kriegs benutzt worden seien. Dafür erhielten er und die von ihm geleitete Institution 2005 den Friedensnobelpreis, eine politisch motivierte, wenig überzeugende Entscheidung. Wurde die IAEA für ihr Stillhalten belohnt? Oder für ihr beharrliches Herunterspielen der Atomkatastrophe von Tschernobyl?

Als Amano die vornehme Zurückhaltung beendete und mit dem Bericht vom November 2011 auf einen Schlag veröffentlichte, womit sich die Agentur jahrelang vergebens beschäftigt hatte, war es ein Paukenschlag. Prompt erntete er heftigen Widerspruch, und das nicht nur von iranischer Seite. Der angesehene linke US-Journalist Seymour Hersh schrieb, die Propaganda, die man schon aus der Zeit vor dem Irak-Krieg kenne, werde nun gegen das iranische Atomprogramm aufgefahren. Die IAEA habe alte Geschichten aufgewärmt, aber keinen definitiven Beweis für ein Atomwaffenprogramm des Iran geliefert. Das hatte Amano auch nicht behauptet. Er insistierte bloß darauf, dass der Iran bei der Aufklärung der Sachverhalte kooperieren und die von der IAEA vorgelegten Fragen vollständig beantworten müsse.
Vier Jahre später gibt es zwar eine als historisch gefeierte Einigung mit dem Iran, aber der Fragenkatalog zu Parchin ist immer noch nicht abgearbeitet. Gemäß dem Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA) soll die IAEA bis zum 15. Dezember eine abschließende Stellungnahme dazu abgeben. Ausgiebig wurde darüber gestritten, ob die Agentur zu diesem Zweck Untersuchungen vor Ort anstellen kann. Die Iraner setzten durch, dass ausschließlich ihre eigenen Inspektoren tätig werden durften, bei laufender Kameraüberwachung durch die IAEA in Wien. Amano war einverstanden. US-Außenminister John Kerry sagte, auf einer Ausschusssitzung des Kongresses in die Enge gedrängt, das Thema dürfe keine Bruchstelle werden. Man wisse doch ohnehin, was die Iraner früher gemacht hätten. Ergänzend ist zu berichten, dass Satellitenaufnahmen zeigen, wie das verdächtige Terrain von Parchin in der Vergangenheit zweimal mit Planiermaschinen bearbeitet und »saniert« wurde: ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Das Herumstochern im neu aufgeschütteten Boden hat ohnehin nur eine Alibifunktion. Ein Beweisverfahren müsste anders aussehen: Woher kommen die der IAEA vorliegenden Informationen, wurden die Dokumente auf ihre Echtheit geprüft, sind die Quellen vertrauenswürdig, existieren sie noch, so dass man sie befragen kann, können weitere Zeugen zur Bestätigung oder Widerlegung hinzugezogen werden? Es ist ziemlich klar, dass die IAEA Geheimdienstquellen benutzt hat. Das gehört zu ihrer Arbeitsweise. Damit fangen die Probleme an. Geheimdienste lancieren oder unterdrücken Informationen je nach dem, welche politischen Ziele sie verfolgen. Es handelt sich also grundsätzlich immer um Akte der Desinformation. Über den Wahrheitswert der einzelnen Information sagt das nichts: Ob wahr oder falsch, der Zweck der Weitergabe ist immer Manipulation.
Wenn man das Puzzle aus Sprachregelungen der IAEA und übers Web verstreuten Informationen zusammenfügt, kommt man darauf, dass es sich um US-Geheimdienste, den Mossad und den Bundesnachrichtendienst (BND) gehandelt hat. Was macht der BND auf diesem heißen Pflaster? Die Antwort lautet, er bewegt sich nicht nur darauf, er hat das ganze issue ursprünglich aufgebracht. Vor Jahren war er noch stolz auf diese Leistung. Heute möchte er nicht daran erinnert werden, denn inzwischen gilt es, den JCPOA gegen alle Zweifel und Kritik zu verteidigen.
Mehrfach erzählten große Medien die Geschichte vom sogenannten Laptop des Todes, etwa der Spiegel im Juni 2010 oder die Süddeutsche Zeitung am 20. März dieses Jahres. Aber auch in der internationalen Presse wurde der deutsche Beitrag erwähnt. Demnach soll es zu Beginn des Jahrtausends einen mit dem Codenamen »Delphin« versehenen Geschäftsmann in Teheran gegeben haben, der den BND mit interessantem Material versorgte. Seine wichtigsten Informationen habe Delphin aber für sich behalten und auf einem versteckten Laptop gespeichert – als Druckmittel, falls ihm etwas passieren sollte. So sei es dann schließlich im Jahr 2003 gekommen: Er sei vom iranischen Geheimdienst verhaftet worden, aber seine Frau habe den Laptop oder zumindest dessen Festplatte außer Landes bringen können. Seitdem fehlt jede Spur von Delphin, falls es ihn je gegeben hat. Denn das alles hört sich stark nach einer Legende an, die den wirklichen Besitzer des Laptops schützen soll.
Daran setzen die Kritiker der IAEA an, am heftigsten jene investigativen Journalisten, die den US-Demokraten und der Friedensbewegung nahestehen. Die Sache mit Delphin sei eine Räuberpistole. In Wahrheit habe der Mossad keine Mühe gescheut, die zahlreichen elektronisch vorliegenden Dokumente zu fälschen. Das sehe man an einigen Details: an der Bezeichnung des Iran als »Islamischer Staat« statt als »Islamische Republik«; an der Beschreibung einer amateurhaften Raketentechnik und an technischen Unstimmigkeiten. In dieser Sicht war die Rolle des BND nur die eines Kofferträgers. Er beförderte einen Laptop vom Mossad zur CIA.

Das ist eine alternative Räuberpistole, die einer anderen politischen Absicht dient. Für das Wirken des Mossad gibt es genauso wenig Beweise wie für Delphin. Nun ist nach der Schnittmenge zwischen diesen beiden gegensätzlichen Versionen zu fragen, und siehe da – es gibt eine. Beiden Darstellungen zufolge liegt der Schlüssel zur Wahrheit bei einigen wenigen deutschen Politikern, die über die BND-Erkenntnisse aus erster Hand unterrichtet waren. Frank-Walter Steinmeier (SPD) beispielswiese, der als Kanzleramtsminister unter Gerhard Schröder damals die Geheimdienste beaufsichtigte, soll persönlich an der Beratung teilgenommen haben, auf der sich die Spitzenleute der deutschen und US-amerikanischen Dienste darüber austauschten, wie mit den Laptop-Dokumenten umzugehen sei. Heute scheint Steinmeier den Standpunkt zu vertreten, dies sei ein Thema, das man doch wohl mal verschweigen dürfen wird.
Nach all dem liegen beim BND Topinformationen über Parchin vor. Er hat sie sicherlich bereits vor zehn Jahren intensiv geprüft, bewertet und die Bundesregierung darüber unterrichtet. Heute hat man einen guten Begriff davon, was man einer Festplatte alles entnehmen kann. Die Dienste wussten es damals schon. Mit anderen Worten: Jeder IT-Profi kann innerhalb weniger Tage feststellen, ob sie präpariert wurde. Angesichts dieser Informationslage ist es eine grobe Irreführung, den Streit über Parchin anhand der Frage zu führen, ob dort einige IAEA-Inspektoren mit zehnjähriger Verspätung im Sand spielen dürfen oder nicht.
Eine dritte Lesart der Geschichte sollte nicht übergangen werden, zumal sie keiner Vertuschung dient. An einem Atomprogramm sind Physiker nicht unwesentlich beteiligt. Sie sind in der Regel staatsloyal, regimetreu und fachidiotisch, aber in religiöser Hinsicht eher unzuverlässig, was ihr Beruf nun mal mit sich bringt. Hinzu kommt, dass der Bau von Atombomben nach Hiroshima und Nagasaki unter Physikern nicht gerade beliebt ist. In den Jahren 2002 und 2003 wurde bekannt, dass der Iran insgeheim eine Anlage zur Urananreicherung in Natanz aufbaut. Die internationale Öffentlichkeit war alarmiert. Die damalige Regierung der sogenannten Reformer unter Mohammed Khatami versuchte zu retten, was zu retten war. Teilprogramme wurden gestoppt, das Management ausgewechselt, Entwicklungsarbeiten verlagert. Alles sollte nach einer rein zivilen Atomkraftnutzung aussehen. Sicherlich war es einigen Teilnehmern des Atomprogramms ernst mit dieser Wende und sie hätten sie gern unumkehrbar gemacht. Um das zu bewerkstelligen, gibt es kaum eine andere Möglichkeit als die Flucht an die Öffentlichkeit, und sei es an eine ausländische. Delphin könnte also ein whistleblower gewesen sein. Im Übrigen ist der Codename sympathisch. »Die Stimme der Delphine« ist eine Essay-Sammlung des ungarisch-jüdischen Physikers Leó Szilárd, der nach der Entdeckung der Kernspaltung als erster erkannte, dass eine nukleare Kettenreaktion und damit die Freisetzung enormer Energiemengen möglich sein würde. Er wusste von Anfang an, dass es eine verhängnisvolle Entdeckung war. Das Buch ist Szilárds politisches Testament und eine der ersten Schriften der Antiatombewegung.